“Heute 6:07 UT” erschien 2011 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH Halle (Saale). Dazu eine Rezension von Andreas Weise, überarbeitet für Raumfahrer.net.
Ich vertrete ja die Meinung, dass es möglich ist, durch intensives Zusammen- und Abschreiben aus den verschiedensten Quellen im Internet, gewürzt mit etwas eigenem Statement, schnell ein so genanntes „Sachbuch“ zum Thema bemannte Raumfahrt zusammen zu schreiben, ohne dass man jemals überhaupt eine Rakete gesehen hat, einen Kosmonauten/Astronauten gesprochen hat oder sonst eine genauere Kenntnis von der Materie besitzt.
In so manchen „Fachartikeln“ zum Thema „Gagarin“ wird schnell deutlich, ob es sich um Fastfood-Journalismus handelt, oder ob der Autor auch wirklich weiß, worüber er da gerade schreibt. Manche Veröffentlichung im deutschsprachigen Raum trieft geradezu von Detailfehlern und Ungenauigkeiten. Außerdem habe ich den Eindruck, dass wann immer von neuen „Enthüllungen“ über die Pannen und Schwierigkeiten rund um den Flug von Wostok 1 berichtet wird, regelmäßig ein wenig der Unterton der Häme mitschwingt.
Völlig zu unrecht! Denn mit jedem Detail des Fluges, das jetzt veröffentlicht wird, wird die Leistung des Fluges von Wostok 1 mit Gagarin als Frontmann und dem Kollektiv von Wissenschaftlern und Technikern im Hintergrund nur noch größer und bedeutender zu bewerten sein.
Gerhard Kowalski hatte nun genau zum 50. Jahrestag von Gagarins Raumflug im April 2011 sein neues Buch vorgelegt.
Eines kurz vorweg: Nein, die Geschichte der bemannten Raumfahrt muss nicht umgeschrieben werden. Wer also in Gerhard Kowalskis neuem Buch das bis dato mutmaßlich super streng gehütete super geheime Geheimnis der Geheimnisse gelüftet haben will, wird enttäuscht.
Doch beim genauen Lesen stellt man fest: Dieses Buch bietet ungemein viel Einzel- und Detailwissen an. Und das sehr spannend präsentiert. Das liegt in erster Linie am Autor selber. Kowalski ist ein intimer Kenner der sowjetischen und russischen Kosmonautik, hat jahrzehntelang persönliche Kontakte zu entsprechenden Personen und Institutionen aufgebaut. Auf Grund seiner Sach- und Sprachkenntnisse, sowie seiner Sprachgewandtheit öffneten sich so manche Türen und Herzen verschiedenster Protagonisten und damit Informationsquellen aus erster Hand.
Also: Der Mann weiß, was er schreibt, und worüber er schreibt. Hört sich simpel an, ist aber leider nicht immer die Regel auf dem hiesigen Büchermarkt. Das Buch selber ist keine Gagarin-Biographie, wie manchmal falsch vermutet. Das ist erfreulich, würde doch die Ausbreitung des kompletten Lebenslaufes von Gagarin von seiner Geburt, seiner Kindheit an, über seine Lehre etc. viel umfangreicher und vielleicht auch ermüdender ausfallen und hätte auch viel weniger mit der Raumfahrt zu tun. In Kowalskis Werk wird vielmehr der Zeitraum 1960 bis 1968 mit den Ereignissen rund um Gagarin analysiert. Das alles ist mit scharfer Zunge formuliert und sehr informativ.
Schon einmal hatte Kowalski versucht, alle bekannten Fakten rund um den Gagarin-Flug in einem Buch zusammen zu fassen. „Die Gagarin-Story“ (Mit dem reißerischen Buchtitel war der Autor nie glücklich.) galt lange Zeit als das Standartwerk zum Thema. Die letzte überarbeitete Auflage erschien im Jahre 2000.
Der Autor erhielt seinerzeit nicht nur viel Zustimmung, sondern vereinzelt auch, sagen wir es einmal diplomatisch, einige verbale Unmutsbekundungen von DDR-Raumfahrtfans über manche Passage in diesem Buch. Auch gibt es mittlerweile neuere, präzisere Erkenntnisse, Bewertungen und Sichtweisen. Insofern bedurfte die „Die Gagarin-Story“ einer gründlichen Überarbeitung. Und wer Kowalski kennt, weiß, dass er sehr gründlich ist. Und das ganz speziell, wenn es um Gagarin geht.
Für alle Leser, die sich dem Thema Gagarin zum ersten Mal nähern wollen und die „Gagarin-Story“ nicht gelesen haben, ist dieses neue Buch eine Fundgrube. Kowalski hat wirklich alles, was zum Stichtag 12. April 2011 bekannt war, versucht zusammen zu fassen und zu Papier zu bringen. Der aufmerksame Leser taucht nicht nur um die Ereignisse rund um den ersten bemannten Weltraumflug ein, sondern erfährt auch viel von der Atmosphäre, den Bedingungen, die zur damaligen Zeit in der Sowjetunion herrschten. Zusatzinformationen, ohne die eine objektive Bewertung der gagarinschen Ereignisse heute nicht möglich ist.
Geduldig erklärt der Autor, warum die Ereignisse so ab liefen und nicht anders, welchen sachlichen und ideologischen Zwängen die handelnden Personen unterworfen waren. Insofern ist mit dem vorliegenden Buch ein neues Standartwerk zum Thema „Gagarin und der erster bemannter Raumflug“ präsent, das in seinem Umfang und seiner Detailgenauigkeit seines Gleichen sucht.
Nun zum Leserkreis, der sich schon seit Jahren mit der Geschichte der bemannten Raumfahrt beschäftigt: Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob man das vorliegende Werk eine stark überarbeitete Neuauflage der „Gagarin-Story“ nennen sollte, oder ob man von einem neuen eigenständigen Buch sprechen kann. Ich tendiere zu ersterem, obwohl viel Neues und neu bewertetes drinnen steht. Ab und zu geht Kowalski auch direkt auf die „Gagrin-Story“ ein. Erläutert, warum etwas dort genau so steht, welche Missverständnisse es gegeben hat. Speziell bei der Problematik der Gagarin-Fallschirmlandung kommt das zum Ausdruck.
Der aufmerksame Leser wird mit einer Flut von Namen, Ereignissen und Zeitdaten bombardiert, ohne dass die Lektüre langatmig wird. Ich selber habe mich dabei ertappt, wie ich alte historische Fotos aus meinem Archiv zu den beschrieben Ereignissen zugeordnet habe. Einiges ist mir gelungen, anderes nicht.
Was auffällt ist, dass das Buchmanuskript möglicherweise unter einem enormen Zeitdruck entstanden ist. Teilweise hatte ich den Eindruck, dass der rote Faden doch ganz schön im Zick-Zack verläuft und bekannte Abschnitte aus der Gagarin-Story schnell mit neuen Textabsätzen ergänzt wurden. Da „holpert“ das Buch dann ein wenig. Letzteres ist sicher aber auch der Tatsache geschuldet, dass der Autor auf wirklich alles eingehen wollte.
Die wenigen Unklarheiten (wenn es überhaupt welche sind), die ich persönlich zu erkennen denke, werden bestimmt in einer überarbeiteten Auflage verschwunden sein. Sicher gibt es dann auch wieder neue Erkenntnisse, und Neues zu berichten.
„Nach dem Buch ist vor dem (nächsten) Buch…!“
Und bestimmt arbeitet Kowalski schon an einer erweiterten Neuauflage.
Gut finde ich übrigens auch, dass der Autor auf den Text begleitende Fotos verzichtet hat. Wer sich einmal mit dem Durcheinander rund um gagarinsche Fotos beschäftigt hat, weiß, dass eine richtige Auswahl bestimmt nicht leicht gefallen wäre. Von lizenzrechtlichen Aspekten ganz zu schweigen. Hier besteht die Möglichkeit, sich voll auf den Textinhalt zu konzentrieren.
Die handvoll Fotos im Buchanhang hätten völlig weggelassen werden können. Sie sind von Inhalt und Qualität vernachlässigbar. Vielmehr hätte anstelle dieser Bilder eine Grafik des Wostok-Raumschiffs, der Trägerrakete und eine Darstellung des Flugverlaufs hinein gepasst. Der Problematik, ein Buch für den Leser preislich attraktiv zu gestalten, wird man hier jedenfalls augenscheinlich gerecht. Viele gute Bücher werden leider nicht gekauft, weil sie einfach zu teuer sind.
Fazit: Das vorliegende Buch ist ein Muss für jeden an Gagarin und der Geschichte der Raumfahrt interessierten Leser in Ost und West.