Vom 29. September bis zum 6. Oktober 2024 fand unter dem Motto „Generation Space – Shaping the future together“ der XXXV. ASE Planetary Congress in den Niederlanden statt. In einem sehr ausführlichen Vortrag in der zweiten technischen Vortragsreihe ging Mike Fincke auf das Starliner-Programm und die Zusammenarbeit zwischen NASA und Boeing ein.
Autoren: Ingo Muntenaar und Kirsten Müller, Quelle: Kongressbesuch.
Das Update zum Starliner wurde mit den Schlagzeilen aus Nachrichtenmagazinen eingeleitet. „Stuck in Space“ mit den Konterfeis von Sunita Williams und Barry Wilmore oder die Umbenennung von Starliner in „Stuckliner“ waren nur einige der Überschriften, die eingeblendet wurden. Allerdings haben Videos, die während des Kongresses eingeblendet wurden, gezeigt, dass Sunita Williams und Barry Wilmore nicht im Weltraum gestrandet sind.

Laut Mike Fincke hat es die NASA gleichzeitig mit drei verschiedenen, brandneuen Raumkapseln zu tun, SpaceX Crew Dragon, Boeing CST-100 Starliner und Orion, wobei schon die Handhabung mit einem einzigen Raumfahrzeug eine Herausforderung bedeutet.
Anschließend gibt Mike Fincke einen Überblick über das kommerzielle, bemannte Raumfahrtprogramm.
Vor 10 Jahren, 2014, kurz nach dem XXVII ASE Planetary Congress in China wurden weitreichende Entscheidungen für das Commercial Crew Programm angekündigt. Dabei ist man davon ausgegangen, dass der Wettbewerb zwischen drei Teilnehmern (Boeing, SpaceX, Sierra Nevada) entschieden würde, und man sich auf einen Lieferanten für das zukünftige Raumfahrzeug einigen würde. Aber entgegen dieser Annahme wurden zwei Unternehmen für das zukünftige bemannte Weltraumprogramm ausgewählt. Nur Sierra Nevada (mittlerweile Sierra Space) ist aus diesem Wettbewerb ausgeschieden. Mittlerweile hat Sierra Space sein unbemanntes Raumtransportsystem Dream Chaser vorgestellt.
Die Vereinigten Staaten wollten das Wachstum eines kommerziellen Raumfahrtsektors im erdnahen Weltraum fördern und erleichtern. Dabei sollten die USA eine Führungsrolle bei der Schaffung neuer Märkte einnehmen.
Die Raumfahrtbehörde NASA sollte von einem Teil der technischen Arbeit entlastet werden. Diese sollte von kommerziellen Partnern übernommen werden. Drei Schlüsselthemen, die einige der Veränderungen unterstreichen, hat die NASA im Hinblick auf den kommerziellen Raumfahrtsektor bereits in Angriff genommen:
- Die Rolle des Privatsektors als Partner und nicht als Auftragnehmer. Als Beispiel nannte Mike Fincke das Space Shuttle. Dieses Raumtransportsystem gehörte den Vereinigten Staaten. Beim SpaceX-System ist das nicht mehr der Fall. Die Dragon-Kapseln sind im Besitz von SpaceX. Der Starliner gehört Boeing.
- Die NASA kauft Dienstleistungen von diesen Raumfahrtfirmen und nicht mehr die Hardware.
- Private Firmen können ihren Einfallsreichtum schneller in Innovationen umsetzen.
Die Anforderungen, die die NASA für das kommerzielle Crew-Programm an die industriellen Partner gestellt hatte, sahen folgende Randbedingungen vor:
- Lieferung und Rückkehr von vier Besatzungsmitgliedern und ihrer Ausrüstung zur Internationalen Raumstation
- Sicherstellung der Rückkehr der Besatzung im Falle eines Notfalls
- Im Falle eines Notfalls als 24-stündiger sicherer Hafen dienen
- 210 Tage lang an die Internationale Raumstation angedockt bleiben können
Aus dem kommerziellen Crew-Programm wurden zwei Partner ausgewählt, Boeing und SpaceX. Boeing war der NASA bereits als vertrauensvoller Lieferant bekannt, da sie maßgeblich am Bau der Internationalen Raumstation beteiligt waren. SpaceX war die große Unbekannte. Sie bekamen gewissermaßen eine „Wildcard“. Die NASA wusste nicht was mit diesem Vertragspartner auf sie zukam. SpaceX hätte mit seinem Lösungsansatz sehr erfolgreich oder auch komplett erfolglos sein können.
SpaceX war mit seiner Crew Dragon, die mit der Falcon 9 Rakete gestartet wurde, bisher sehr erfolgreich. Folgende Missionen sind erfolgreich durchgeführt worden:
- SpX DM-1: 2. März 2019 – 8. März 2019 (keine Besatzung)
- SpX DM-2: 30. Mai 2020 – 1. August 2020 (Hurley, Behnken)
- SpaceX Crew-1: 16. November 2020 – 2. Mai 2021 (Hopkins, Glover, Noguchi, Walker)
- SpaceX Crew-2: 23. April 2021 – 9. November 2021 (Kimbrough, McArthur, Hoshide, Pesquet)
- SpaceX Crew-3: 11. November 2021 – 6. Mai 2022 (Chari, Marshburn, Maurer, Barron)
- SpaceX Crew-4: 27. April 2022 – 14. Oktober 2022 (Lindgren, Hines, Cristoforetti, Watkins)
(Anmerkung der Redaktion: Über die weiteren Flüge hatte Mike Fincke bereits in seinem ersten Teil berichtet)
Mit Beginn der operationellen Flüge hat SpaceX sein Vertragsvolumen sogar übererfüllt. War SpaceX anfangs davon ausgegangen, dass sie einen Crew Dragon-Flug pro Jahr zur Internationalen Raumstation durchführen mussten, so belief sich diese Anzahl nunmehr auf zwei Flüge. Der eine Flug pro Jahr, den Boeing vertragsgemäß mit dem CST-100 / Starliner absolvieren sollte, konnte nicht erfüllt werden. SpaceX hat diese Lücke im Flugplan gefüllt und weitere Ressourcen dafür aufgebaut. Allerdings würde SpaceX gerne Erfolge beim Boeing-Team sehen. Die hohe Arbeitsbelastung macht der SpaceX-Belegschaft zu schaffen. Sie würden gerne turnusmäßig auf einen Crew Dragon-Flug pro Jahr zurückkehren.
Bei Boeing sieht die Situation allerdings etwas anders aus. Die Raumkapsel CST-100 / Starliner wird durch die Trägerrakete ULA / Atlas V N22 in den Weltraum gebracht. Da von der Atlas V allerdings nur noch 6 oder 7 flugbereite Raketen vorhanden sind, soll die Atlas V durch die ULA / Vulcan ersetzt werden.

Der Zeitplan für die Flugtests sah einen unbemannten OFT (Orbital Flight Test) vor. Dieser fand vom 19. bis zum 22. Dezember 2019 statt. Dieser Flug sollte an die Internationale Raumstation andocken, allerdings wurde dieser Versuch abgebrochen. Ein weiterer unbemannter Flug mit der Bezeichnung OFT-2 fand vom 19. bis zum 21. Mai 2022 statt. Dieses Mal war die Kopplung mit der Internationalen Raumstation erfolgreich. 2021 sollte dann der erste bemannte Testflug (CFT – Crewed Flight Test) zur ISS stattfinden. Als Crew für diesen Testflug wurden Christopher Ferguson, Nicole Mann und Eric Boe benannt (Anmerkung der Redaktion: Letzterer wurde aus gesundheitlichen Gründen durch Mike Fincke ersetzt). Der Testflug zur Internationalen Raumstation sollte eine Flugdauer von sechs Monaten haben. Nach diesem Flug war ab Mitte 2022 der Beginn der operationellen Phase (CTS-1 – Crew Transportation System) mit einer vierköpfigen Besatzung geplant. Als Crewmitglieder wurden unter anderem Josh Cassada, Sunita Williams und Jeanette Epps genannt (Anmerkung der Redaktion: Suni Williams befindet sich zur Zeit auf der ISS; Jeanette Epps ist mit SpaceX Crew-8 zur Raumstation geflogen). Für den CFT wurden die Besatzungen weiter durchgetauscht und letztendlich fiel die Wahl auf Sunita Williams und Barry Wilmore mit dem Ersatz-Crewmitglied Mike Fincke. Mike Fincke ist dann als Pilot für die CTS-1 Mission benannt worden. Als weitere Besatzungsmitglieder für diesen Flug sind Scott Tingle als Kommandant, sowie der kanadische Astronaut Joshua Kutryk und der japanische Astronaut Kimiya Yui als Missionsspezialisten nominiert.

Erster Testflug OFT-1
Am 20. Dezember 2019 um 11:36 Uhr GMT startete die Atlas-V mit ihrer Nutzlast zum Testflug OFT-1. Das Hauptproblem trat beim Einschuss in die Erdumlaufbahn auf. Die Raumkapsel hatte eine falsche Zeiteinstellung der Missionsuhr von der Atlas V-Borduhr übernommen. Der Fehler resultierte aus einer falschen Zuweisung des Softwarecodes, was wiederum zu einem Fehler beim Einschuss in die Erdumlaufbahn (Orbital Insertion Burn) führte. Ein weiteres Softwareproblem hätte zum Totalverlust der Flughardware führen können. Das Servicemodul hätte beim Wiedereintritt mit dem Besatzungsmodul kollidieren können, wenn nicht mitten in der Mission Software-Updates übertragen worden wären. Die Landung erfolgte am 22. Dezember 2019, 12:58 Uhr GMT am vorgesehenen Landeplatz White Sands Missile Range, New Mexico.
Nach der Fehleranalyse des Fluges OFT-1 forderte die NASA den Hersteller Boeing auf, 80 Softwarekorrekturen vorzunehmen, wobei der Schwerpunkt auf End-to-End-Tests und Codeüberprüfung lag.
Das war für die NASA der erste Hinweis, dass Boeing keine integrierten End-to-End Tests durchgeführt hatte. Dabei wird überprüft, ob jede Komponente innerhalb des gesamten Systems in realen Szenarien korrekt funktioniert, um sicherzustellen, dass sich die Software / Hardware aus Sicht des Benutzers wie vorgesehen verhält. Da Boeing als Lieferant von Hardware für die Raumstation solche Tests wohl durchgeführt hatte, war die NASA davon ausgegangen, dass Boeing das nun wiederum getan habe.
Mit den entsprechenden Korrekturen hätte im August 2021 der OFT-2 Testflug stattfinden sollen.
Erster Startversuch OFT-2 am 4. August 2021
Im August 2021 stand die Atlas V mit der Nutzlast OFT-2 bereits auf der Startrampe als 2 Tage vor dem Start heftige Regenschauer über Florida hereinbrachen. Am Starttag wurden noch etliche Pre-Flight Checks an den Treibstoffventilen der Triebwerke vorgenommen. Die Ventile haben bei diesen Kontrollen nicht angesprochen. Es stellte sich heraus, dass Feuchtigkeit in die Treibstoffventile des Antriebssystems eingetreten waren. Die hypergolen Treibstoffe (Stickstofftetroxid – N2O4 und Monomethylhydrazin – N2H3(CH3) ) haben in Verbindung mit Wasser zu Korrosion in den Ventilen geführt.
Die Ingenieure konstruierten die Ventile neu, um die Abdichtung zu verbessern und somit zukünftig Feuchtigkeitsschäden auszuschließen. Anhand neuer Testprotokolle konnten die Ventile zertifiziert werden. Dies führte zu weiteren Startverzögerungen.
Zweiter Startversuch OFT-2 am 19. Mai 2022
Am 19. Mai 2022 um 22:54 Uhr GMT startete die Atlas-V Rakete. Der Flug der Atlas-V verlief reibungslos und OFT-2 konnte planmäßig in der Erdumlaufbahn abgetrennt werden. Beim Zünden der OMACS-Triebwerke (Orbital Maneuvering) des CST-100 wurde ein Paket mit zwei Orbitaltriebwerken vom bordseitigen Flugkontrollsystem des OFT-2 Servicemoduls abgeschaltet. Mit den zehn verbliebenen Orbitaltriebwerken und den kleineren Lageregelungstriebwerken konnte der Flug fortgesetzt werden und die weiteren Bahnmanöver konnten problemlos durchgeführt werden. CST-100 dockte am 21. Mai 2022 an die ISS an. Die Starliner-Luke wurde am gleichen Tag um 16:04 Uhr GMT geöffnet. Nach 4 Tagen und 18 Stunden gemeinsamen Flug wurde CST-100 / Starliner von der Raumstation abgekoppelt und trat einige Stunden später in die Erdatmosphäre ein. Die Landung erfolgte am 25. Mai um 22:49 Uhr GMT am vorgesehenen Landeplatz White Sands Missile Range, New Mexico.
Nach diesem erfolgreichen Testflug ging man nunmehr davon aus, dass der bemannte Starliner Flug CFT-1 stattfinden könnte. Mit OFT-2 hatte Boeing die Einsatzbereitschaft bewiesen und die NASA ging nun davon aus, dass es in Kürze zu einem halbjährigen Wechsel des Zubringerraumschiffes für die Besatzungen zwischen SpaceX und Boeing kommen würde.
Weg zum CFT (Crew Flight Test):
Ein Testflug im Juni 2023 war nicht mehr zu halten. Bei der Endkontrolle im Frühjahr 2023 wurden erneut Probleme aufgedeckt. Elektrische Leitungen waren mit brennbarem Klebeband umwickelt. An den Stellen, an denen das Klebeband nicht entfernt werden konnte, wurde das Klebeband mit einer nichtbrennbaren Schutzschicht versehen. Diese Arbeiten waren bis zum Herbst 2023 abgeschlossen. Allerdings wurden im Frühjahr auch Probleme mit den Fallschirmgurten registriert. Einige Fallschirmschlingen entsprachen nicht den aktuellsten Sicherheitsstandards und das Fallschirmsystem war damit nicht ordnungsgemäß getestet worden. Ein überarbeitetes Fallschirmsystem wurde angefertigt und musste dann für eine Flugzertifizierung getestet werden. Der Abwurftest mit einem überarbeitetem Fallschirmsystem fand erfolgreich in Yuma im Bundesstaat Arizona statt.
Obwohl das Ende des Raumstationsprogramms, welches für 2030 terminiert ist, immer näher rückt, will die Raumfahrtbehörde NASA immer noch zwei konkurrierende bemannte Fahrzeuge als Zubringerraumschiffe für die Internationale Raumstation haben. Ziel ist es, jedes Jahr einen bemannten Flug mit Boeing und SpaceX durchzuführen.
Starttermin CFT-1:
Der Start für den bemannten Testflug CFT-1 war für den 6. Mai 2024 terminiert. Frühere Termine waren durch den Zubringerverkehr bemannter und unbemannter Raumschiffe nicht möglich.
Am 25. April 2024 flogen die beiden designierten Crewmitglieder Barry E. Wilmore und Sunita L. Williams von der Ellington Air Base, Houston mit ihren T-38 nach Florida, um sich dort umgehend in die Quarantäne zu begeben.

Am 6. Mai 2024 saßen Butch Wilmore und Suni Williams bereits angeschnallt in ihren Konturensitzen und warteten auf das Zünden der Haupttriebwerke. Zwei Minuten vor dem Start wurde dieser Versuch allerdings abgebrochen. Diesmal lag es nicht am CST-100 / Starliner, sondern die sonst als sehr zuverlässig geltende Atlas-V hatte ein Problem in der Centaur-Oberstufe. Ein Überdruckventil am Sauerstofftank war defekt.
Nach dem Austausch des defekten Überdruckventils wurde ein erneuter Startversuch am 1. Juni 2024 unternommen. Dieses Mal sorgte ein Software-Fehler im Computer des Startsequenzers zum Stoppen des Countdowns. Außerdem wurde ein Heliumleck in einem der 28 Lageregelungstriebwerke im Starliner detektiert. Dieses Leck war aber nicht ausschlaggebend für den Startabbruch. Nach etlichen Meetings wurde auf eine Reparatur des Lageregelungstriebwerks verzichtet. Die Ausgasungsrate war zu gering und hätte den Flug nicht gefährdet.
Am 5. Juni 2024 um 14:52:15 Uhr GMT erhob sich Atlas-V mit seiner Nutzlast von der Startrampe SLC-41 zum ersten bemannten Flug. Beim Anflug auf die Raumstation wurden die ersten Ausfälle von Lageregelungstriebwerken bemerkt, aber dadurch, dass genügend redundante Systeme vorhanden waren, wurden die Annäherungsmanöver an die Raumstation fortgeführt. Am 6. Juni 2024 um 17:34 Uhr GMT erfolgte das Andocken, und nach den obligatorischen Leckchecks zwischen Starliner und dem Andockmodul wurden die Luken zwischen Starliner und der ISS geöffnet. Die Leckrate und der Ausfall einiger Lageregelungstriebwerke wurden im Missionskontrollzentrum massiv diskutiert. Gleichzeitig wurden beim Hersteller Bodentests von baugleichen Triebwerken durchgeführt.
Butch Wilmore und Suni Williams wurden währenddessen voll in die Bordaktivitäten der Expedition 71 integriert.
Die NASA entschloss sich dazu, den Rückflug vom Starliner ohne Besatzung durchzuführen. Auf dem Rückweg zur Erde sollten weitere Triebwerktests durchgeführt werden um eine bessere Datenlage zu gewinnen, ohne die vorherigen Besatzungsmitglieder in Gefahr zu bringen. Barry „Butch“ Wilmore und Sunita „Suni“ Williams blieben an Bord der Raumstation zurück. Sunita Williams hält nun das Kommando für Expedition 72.
Das Abdocken von Starliner erfolgte am 6. September 2024 um 22:04 Uhr GMT. Die Bremstriebwerke vom Starliner wurden um 03:17 Uhr GMT gezündet. Planmäßig wurde das Servicemodul abgetrennt. Der weitere Abstieg in der Atmosphäre wurde durch die Fallschirme abgebremst und die Landung von Starliner erfolgte, abgebremst durch die Airbags, am 7. September 2024 um 04:01 Uhr GMT auf dem Testgelände der White Sands Missile Range in New Mexico.
Auf dem Rückweg von der ISS zur Erde wurden keine weiteren Probleme mit den Lageregelungstriebwerken registriert.
Fehleranalyse der Lageregelungstriebwerke
Bei den In-orbit Operationen wurden die Lageregelungstriebwerke mit kleinen Schubstößen gefeuert. Dabei überhitzte sich nicht nur dieses Triebwerk, sondern auch die anderen Lageregelungstriebwerke, die unter der Gehäuseabdeckung zusammengefasst waren. Die Wärme konnte nicht schnell genug abgeführt werden. Lange Triebwerkstöße führen dazu, dass der unterkühlte Treibstoff, der durch die Zuleitungen zugeführt wird, ebenfalls einen Kühleffekt auf die weiteren Triebwerkpakete in dem entsprechenden Gehäuse haben.
Falsche Annahmen beim Erstellen des thermischen Modells führten zu diesem gravierenden Konstruktionsfehler. Die Vielzahl der Triebwerkszündungen beim Anflug auf die Raumstation dienen natürlich bei einem Testflug der Überprüfung, ob die theoretischen Annahmen der Flugsteuerung mit den realen Flugbewegungen übereinstimmen. In diesem Fall führten diese Triebwerkpulse jedoch zu einer thermischen Belastung und zu einer Ausdehnung der Ventile. Teflondichtungen in den Ventilen dehnten sich in der Hochtemperaturumgebung aus, wodurch der Oxidationsmittelfluss eingeschränkt wurde. Dieses wiederum führte zur Verringerung der Effizienz der Triebwerke.
Beim Hinflug des Starliner hat eins von 28 Triebwerken gar nicht funktioniert, und mehrere dieser Triebwerke haben nur eingeschränkt gearbeitet. Während der Dockingphase an die Raumstation gab es immer wieder technische Meetings, in denen die Leistungen der Triebwerke erörtert wurden. Auch stellte sich die Frage, ob sich nach dem Ablegen des Starliner von der Raumstation die Situation mit den Triebwerken noch verschlechtern würde. Weitere Triebwerktests an Testständen haben zu einem tiefergehenden Verständnis über die Triebwerkprobleme geführt.
Abschließende Diskussionen führten dazu, dass die Triebwerksprobleme Auswirkungen auf die weiteren Zubringerflüge mit CST-100 / Starliner zur Internationalen Raumstation haben werden. So werden operationelle Flüge erst nach Behebung der Designfehler beginnen. Für Barry Wilmore und Sunita Williams bedeuteten die fehlerhaften Lageregelungstriebwerke einen Verbleib auf der Raumstation und die Rückkehr mit einer Crew Dragon zu einem späteren Zeitpunkt im März 2025 (Anmerkung der Redaktion: Bei der Präsentation wurde noch der Februar 2025 als Rückkehrtermin mit Crew Dragon genannt).
Für die Flugplanung bedeutete das, dass Zena Cardman und Stephanie Wilson nicht Teil der Besatzung von SpaceX Crew-9 sein würden. Diese beiden Sitze werden beim Abkoppeln von der Raumstation durch Barry Wilmore und Sunita Wilson belegt werden.
Für Boeing bedeutet der Testflug vom Starliner nur ein Teilerfolg. Für eine zukünftige Einsatzbereitschaft vom Starliner muss Boeing weitere Thermal- und Funktionstests an den Lageregelungstriebwerken absolvieren.
Die weiteren Fragen, die sich nach dem Testflug stellen sind folgende:
Ist Starliner nach diesem ersten Testflug voll einsatzbereit? Möglicherweise nicht mit den Daten, die man aus diesem Flug gewonnen hat.
Welche Tests fehlen noch? Mit welchen thermischen Modellen will man zukünftig arbeiten?
Wie werden zukünftig die Lageregelungstriebwerke benutzt werden dürfen, ohne dass man die Triebwerke überhitzt?
Wird CST-100 / Starliner überhaupt die Einsatzreife erhalten, um die halbjährlichen Rotationsphasen gemeinsam mit der Crew Dragon zu schaffen?
Was kann man aus den Fehlern lernen?
Integrierte Tests: Zukünftige Raumfahrzeuge sollten integrierten Systemtests über einen kompletten Missionszyklus vom Start bis zur Landung unterzogen werden.
Dadurch kann man die Fehler vom Starliner OFT-1 – Flug vermeiden. Im Gegensatz zu SpaceX hat Boeing eben die Hardware nicht gut genug getestet. Boeing kauft Hardware von unterschiedlichen Lieferanten. Diese Hardware hat ein Readiness Review durchlaufen. Die Funktionalität eines Bauteils muss der Lieferant gegenüber seinem Kunden nachweisen. Damit ist das Bauteil zertifiziert. Nach dem Zusammenbau der einzelnen Komponenten bei Boeing hat es keinen integrierten Test der Baugruppe mehr gegeben, da jedes einzelne Bauteil seine Zertifizierung durch die Tests beim Kunden ja erhalten hat. Daher musste nach der Logik von Boeing auch die Baugruppe funktionieren, denn jedes einzelne Bauteil wurde durch Tests abgenommen. Wenn z.B. ein integrierter Test der Lageregelungsdüsen inklusive Gehäuse stattgefunden hätte, wären die Thermalprobleme während des Fluges in diesen Baugruppen niemals aufgetreten bzw. wären vorher aufgefallen.
Überprüfung der Software: Umfassende Software-Audits, einschließlich End-to-End-Simulationen, müssen Standard sein, um Software-Probleme wie bei OFT-1 zu vermeiden, die beinahe zu einem katastrophalen Ausfall geführt hätten.
Eine Simulation der Software innerhalb einem integrierten Systemtest hat nicht stattgefunden. Um die Probleme anschließend zu beseitigen, wurden vier Jahre und zwei unbemannte OFT’s (Orbital Flight Test) benötigt.
Antrieb und Ventilkonstruktion: Eine ordnungsgemäße Isolierung und Feuchtigkeitskontrolle in Antriebssystemen sollte Vorrang haben, um Korrosionsprobleme bei Ventilen zu vermeiden, wie sie bei OFT-2 auftraten und zu Verzögerungen führten.
Das Zusammenführen und Verbrennen von hypergolen Treibstoffen in den Lageregelungstriebwerken bereitet sehr große Probleme. Man hatte gehofft, dass man genug Wissen dafür aus den Lageregelungstriebwerken aus dem Space Shuttle Programm gewonnen hätte.
Wärmemanagement: Eine fortschrittliche Echtzeit-Wärmeüberwachung und verbesserte Methoden zur Wärmeableitung sind entscheidend, um Überhitzungsprobleme zu vermeiden, die zu Fehlfunktionen der Starliner-Triebwerke führten.
Die Entscheidungsfindung, ob Sunita Williams und Barry Wilmore den Rückflug im Starliner antreten sollen, hat beinahe 4 Wochen gedauert. Es gab keine genauen Wärmemodelle für die Lageregelungstriebwerke während der Wiedereintrittsphase der Boeing Raumkapsel. Wenn man eine bessere Sensorik und frühzeitig bessere Tests vor dem Raumflug gemacht hätte, hätte es Thermalmodelle gegeben, die die Situation im Weltraum besser eingeschätzt hätten.
Im Anschluss an die Präsentation wurden viele Fragen aus dem Auditorium gestellt. Von diesen bezogen sich etliche auf die Flughardware, die Mike Fincke nicht ausreichend beantworten konnte, weil noch weitere Tests, beispielslweise der Lageregelungstriebwerke, ausstehen.
Eine Frage von Reinhold Ewald (Soyuz TM 25 / Soyuz TM-24) bezog sich auf die Besatzungsstärke der Internationalen Raumstation und die Anzahl der Sitze für die Rückkehrkapsel. Er wunderte sich, warum diese Ausgeglichenheit im Herbst 2024 nicht mehr eingehalten wurde. Starliner ist zur Erde zurückgekehrt, ohne dass es ausreichend Sitze in den Rückkehrkapseln gab. Ewald stellte die Frage, ob es eine Risikobewertung gab.
Als Starliner an die Internationale Raumstation andockte, waren die Probleme mit den Lageregelungstriebwerken noch nicht so groß. Diese Problematik verstärkte sich erst nach dem Andocken. Zu diesem Zeitpunkt gab es auch ausreichend Sitze in den Rückkehrkapseln. (Anmerkung der Redaktion: Anzahl der Sitze in den angedockten Raumfahrzeugen: 2 Plätze im Boeing Starliner für Sunita Williams und Barry Wilmore; 4 Plätze auf SpaceX Crew-8 für Matthew Dominick, Michael Barratt, Jeanette Epps und Aleksandr Grebyonkin; 3 Plätze auf Soyuz MS-25 für Oleg Kononenko, Nikolai Chub und Tracy Caldwell Dyson)
Nachdem Starliner am 6. September 2024 abgelegt hatte, hätte es bei einer Evakuierung der Raumstation keine Rückflugmöglichkeit für Williams und Wilmore mehr gegeben. Sie wären buchstäblich auf der „sinkenden Titanic“ verblieben, da es kein Rettungsboot mehr gab. Für diesen Fall gab es eine Absprache zwischen NASA und SpaceX. „Seatliner“ für Williams und Wilmore wurden in dem Bodenbereich des SpaceX-Raumfahrzeugs so integriert, dass beide Raumfahrer so sicher und verletzungsfrei wie möglich mit der vierköpfigen Stammbesatzung von Crew-8 zur Erde hätten zurückkehren können.
Im Zeitraum zwischen dem Abkoppeln von Starliner und dem Andocken von SpaceX Crew-9 am 29. September 2024 gab es dann tatsächlich ein höheres Risiko für den Fall einer Evakuierung und einem Abdocken der Raumfahrzeuge.
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