Die bisher genaueste Untersuchung von Sternbewegungen innerhalb unserer Heimatgalaxie hat keinen Hinweis auf die Existenz der sogenannten Dunklen Materie in einem großen Raumbereich rund um unser Sonnensystem ergeben.
Ein Beitrag von Ralph-Mirko Richter. Quelle: ESO, Wikipedia.
Nach dem Dritten Keplerschen Gesetz und dem Newtonschen Gravitationsgesetz müsste die Rotationsgeschwindigkeit in den äußeren Bereichen von Galaxien abnehmen. Entgegen dieser Annahme verlaufen die beobachteten Rotationskurven jedoch konstant oder steigen sogar leicht an. Diese Diskrepanz legt die Vermutung nahe, dass im Universum eine Materieform existiert, welche nicht in Form von Sternen, Staub oder Gas sichtbar ist. Diese nicht sichtbare Materie wird von den Astrophysikern als „Dunkle Materie“ bezeichnet.
Die Existenz der Dunklen Materie gilt bisher als nicht nachgewiesen, wird aber neben der Galaxienrotation noch durch eine Vielzahl weiterer astronomischer Beobachtungen wie etwa der Dynamik von Galaxienhaufen oder dem Gravitationslinseneffekt nahegelegt, welche unter Zugrundelegung der anerkannten Gravitationsgesetze allein durch die sichtbare Materie nicht erklärbar sind. Der Dunklen Materie wird eine wichtige Rolle bei der Strukturbildung im Universum und bei der Galaxienbildung zugeschrieben.
Messungen im Rahmen des Standardmodells der Kosmologie legen nahe, dass der Anteil der Dunklen Materie an der Gesamtmasse des Universums etwa fünfmal so hoch ausfällt wie der Anteil der gewöhnlichen, sichtbaren Materie. Nach den weitgehend anerkannten Theorien sollten etwa 83 Prozent der Materie des Universums aus dieser Dunklen Materie bestehen.
Diesen Theorien zufolge sollten auch in der kosmischen Nachbarschaft unseres Sonnensystems beachtliche Mengen dieser unsichtbaren Materie existieren, welche sich den Astronomen allerdings lediglich durch ihre Schwerkrafteinwirkung, nicht jedoch durch die Abstrahlung von Lichtwellen verraten würde. Eine aktuelle Studie zeigt jedoch keine Hinweise für das Vorhandensein Dunkler Materie in der Umgebung unseres Sonnensystems.
Für diese Studie verwendete ein Astronomenteam um Christian Moni Bidin vom Departamento de Astronomía der Universidad de Concepción in Chile das MPG/ESO-2,2-Meter-Teleskop am La Silla-Observatorium der Europäischen Südsternwarte (ESO) und weitere Teleskope, um die Bewegungen von mehr als 400 Sternen in einer Entfernung von bis zu 13.000 Lichtjahren von der Sonne zu vermessen. Auf der Grundlage dieser Datensätze berechneten die Astronomen anschließend die Gesamtmasse aller Materie in der Umgebung des Sonnensystems. Die Auswertung umfasst dabei ein viermal größeres Raumvolumen als vorherige Studien.
„Die von uns berechnete Gesamtmasse entspricht sehr genau der Masse aller sichtbaren Materie – also von Sternen, Staub und Gas – in der Umgebung unserer Sonne“, so Christian Moni Bidin. „Dies lässt keinen Raum für zusätzliches Material – die Dunkle Materie – welche wir eigentlich erwartet haben. Sie hätte sich bei unseren Beobachtungen sehr deutlich zeigen müssen, aber sie ist einfach nicht vorhanden.“
Für ihre Studie haben die beteiligten Astronomen die Bewegungen der beobachteten Sterne sehr sorgsam vermessen, wobei sch ihr besonderes Augenmerk auf weit von der Galaxienscheibe der Milchstraße entfernte Sterne richtete. Insgesamt flossen über 400 Beobachtungen von roten Riesensternen in die Studie ein, welche in Richtung des südlichen galaktischen Pols liegen und deren Abstände zur galaktischen Ebene stark variieren. Die Bewegungen der Sterne werden von der kombinierten Schwerkraftanziehung aller vorhandenen Materie bestimmt. Sterne und interstellare Wolken aus Gas und Staub tragen dazu ebenso bei wie die in der Dunklen Materie verborgene Masse. Auf diese Weise konnten die Forscher Rückschlüsse auf die insgesamt vorhandene Materiemenge ziehen.
Laut den gegenwärtig von Astrophysikern favorisierten Modellen zur Entstehung und Rotation von Galaxien sollte unsere Heimatgalaxie von einem Halo aus Dunkler Materie umgeben sein, dessen exakte Form nach dem jetzigen Forschungsstand allerdings noch nicht bekannt ist. Allgemein wird jedoch auch in der unmittelbaren Umgebung des Sonnensystems das Vorhandensein nennenswerter Mengen an Dunkler Materie erwartet. Demzufolge sollte sich in jedem Raumbereich mit dem gleichen Volumen wie dem der Erde durchschnittlich zwischen 0,4 und einem Kilogramm Dunkler Materie befinden. Laut den neuen Messungen können sich in der Umgebung unseres Sonnensystems allerdings maximal 70 Gramm Dunkler Materie pro Erdvolumen befinden.
Die Wissenschaftler um Christian Moni Bidin weisen darauf hin, dass ihre Studie kein bestehendes Problem löst, sondern dass statt dessen neue Fragen aufgeworfen werden. Der offensichtliche Mangel an Dunkler Materie in unserer kosmischen Nachbarschaft ließe sich auch durch eine allerdings sehr unwahrscheinliche Form des Halos erklären. Zum Beispiel könnte sich die Dunkle Materie in einer senkrecht zur Galaxienscheibe der Milchstraße orientierten langgestreckten Struktur konzentrieren, welche in ihrer Form einem Rugbyball ähnelt.
Die unerwarteten Ergebnisse des Teams um Christian Moni Bidin, welche demnächst in der Fachzeitschrift „The Astrophysical Journal“ publiziert werden, legen zudem nahe, dass vermutlich auch sämtliche weiteren Versuche, die Dunkle Materie von der Erde aus durch die gravitativen Wechselwirkungen zwischen Dunkler und normaler Materie nachzuweisen, nicht zum Erfolg führen werden.
„Trotz dieser neuen Resultate bleibt es eine Tatsache, dass die Milchstraße insgesamt viel schneller rotiert, als durch die normale Materie alleine erklärt werden kann. Wenn die Dunkle Materie also nicht dort zu finden ist, wo wir sie erwartet haben, so ist eine neue Lösung für das Problem der fehlenden Masse nötig. Unsere Ergebnisse widersprechen den derzeit anerkannten Modellen. Die Dunkle Materie ist damit noch ein Stück geheimnisvoller geworden. Zukünftige Messkampagnen wie die der GAIA-Mission der ESA werden von entscheidender Bedeutung sein, um in dieser Frage Fortschritte zu erzielen“, so Christian Moni Bidin.
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