Zeitumkehr in der Quantenmechanik: Systeme können sich simultan in zwei – auch entgegengesetzte – Richtungen entwickeln. Eine Pressemitteilung der Universität Wien.
Quelle: Universität Wien.
26. November 2021 – Ein Team von Physiker*innen der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit Wissenschaftler*innen aus Bristol und von den Balearen hat gezeigt, wie sich Quantensysteme gleichzeitig entlang zweier entgegengesetzter Zeitpfeile (vorwärts und rückwärts in der Zeit) entwickeln können. Die Studie wurde in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Communications Physics veröffentlicht.
Vorwärts und rückwärts fließende Zeitflüsse
Bei der Betrachtung von Himmelsbewegungen entsteht oft ein Gefühl der Ewigkeit, das uns zu der Frage verleiten könnte, ob die Zeit wirklich existiert. Blicken wir hingegen auf unser tägliches Leben, werden alle Zweifel ausgeräumt: Die Zeit existiert und bewegt sich vorwärts. Diese scheinbare Gewissheit ergibt sich aus der Tatsache, dass die meisten makroskopischen physikalischen Phänomene immer nur in einer Richtung ablaufen können. Nehmen wir zum Beispiel die Abfolge unserer morgendlichen Routine: Würde man uns zeigen, wie unsere Zahnpasta von der Zahnbürste zurück in die Tube wandert, wüssten wir zweifelsfrei, dass man uns gerade eine Aufzeichnung unseres Tages im Rücklauf zeigt. In der Physik ist diese Neigung bestimmter Phänomene, sich nur in eine Richtung zu entwickeln, mit der Erzeugung von „Entropie“ verbunden, einer physikalischen Größe, die den Grad der Unordnung in einem System definiert. In der Natur neigen Prozesse dazu, sich spontan von Zuständen mit weniger Unordnung zu Zuständen mit mehr Unordnung zu entwickeln, und diese Tendenz kann zur Identifizierung eines Zeitpfeils verwendet werden. Wenn also ein Phänomen eine große Menge an Entropie erzeugt, ist die Beobachtung seiner zeitlichen Umkehrung so unwahrscheinlich, dass sie praktisch unmöglich ist. Wenn die erzeugte Entropie jedoch klein genug ist, besteht eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass die Zeitumkehr eines Phänomens auf natürliche Weise erfolgt. Denken wir an das Beispiel mit der Zahnpasta zurück: Wenn wir die Tube nur leicht zusammendrücken und nur ein sehr kleiner Teil der Zahnpasta herauskommt, wäre es gar nicht so unwahrscheinlich, dass diese durch die Dekompression der Tube wieder in diese zurück gesaugt wird. Wird die Tube hingegen stärker zusammengedrückt, breitet sich die Zahnpasta unumkehrbar aus, so dass man sich sehr viel mehr anstrengen muss, um die gesamte Zahnpasta wieder in die Tube zu bekommen.
Die Grenze zwischen „vorwärts“ und „rückwärts“ verschwimmt in der Quantenmechanik
Ein Team von Physiker*innen der Universität Wien und des Instituts für Quantenoptik und Quanteninformation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unter Leitung von Časlav Brukner sowie Kolleg*innen aus Bristol und den Balearen hat diese Idee auf den Quantenbereich angewandt. Die Forschenden versuchten, dadurch ein tieferes Verständnis dafür zu erlangen, wie Zeit in diesem Regime fließt. Eine der Besonderheiten der Quantenwelt ist das Prinzip der Quantensuperposition, das besagt, dass, wenn zwei Zustände eines Quantensystems möglich sind, dieses System auch in beiden Zuständen zugleich sein kann. Blickt man auf das System zurück, das sich in die eine oder andere zeitliche Richtung entwickelt (die Zahnpasta, die aus der Tube kommt oder wieder in die Tube zurückwandert), so folgt daraus, dass sich Quantensysteme auch zugleich in beide zeitliche Richtungen entwickeln können. Obwohl dieser Gedanke in Bezug auf unsere alltägliche Erfahrung eher unsinnig erscheint, beruhen die Gesetze des Universums auf ihrer grundlegendsten Ebene auf quantenmechanischen Prinzipien. Dies wirft die Frage auf, warum wir in der Natur nie auf solche Überlagerungen von Zeitflüssen stoßen. „In unserer Arbeit haben wir die Entropie quantifiziert, die von einem System erzeugt wird, das sich in Quantensuperposition von Prozessen mit entgegengesetzten Zeitpfeilen entwickelt. Wir fanden heraus, dass dies meist dazu führt, dass das System auf eine genau definierte Zeitrichtung projiziert wird, die dem wahrscheinlichsten Prozess der beiden Prozesse entspricht“, erklärt Gonzalo Manzano, ein Mitautor der Studie. Und doch kann man, wenn Entropie nur in geringem Ausmaß im Spiel ist (z. B. wenn so wenig Zahnpasta aus der Tube gedrückt wird, dass man sehen kann, wie sie wieder in die Tube zurückgesaugt wird), physikalisch beobachten, welche Folgen es hat, wenn sich das System gleichzeitig in der Vorwärts- und in der Rückwärtsrichtung der Zeit entwickelt. Wie Giulia Rubino, Hauptautorin der Veröffentlichung, betont, „wird die Zeit zwar oft als kontinuierlich zunehmender Parameter behandelt, doch unsere Studie zeigt, dass die Gesetze, die den Zeitfluss in quantenmechanischen Zusammenhängen regeln, viel komplexer sind. Dies könnte darauf hindeuten, dass wir die Art und Weise, wie wir diese Größe dort darstellen, wo Quantengesetze eine entscheidende Rolle spielen, überdenken müssen.“
Publikation
Quantum superposition of thermodynamic evolutions with opposing time’s arrows, G. Rubino, G. Manzano and C. Brukner. Communications Physics (2021).
DOI: 10.1038/s42005-021-00759-1
https://www.nature.com/articles/s42005-021-00759-1
pdf: https://www.nature.com/articles/s42005-021-00759-1.pdf
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