STS-121 im ESTEC: Ein Augenzeugenbericht

Kirsten Müller war beim ersten Startversuch der Raumfähre Discovery am 1. Juli für Raumfahrer.net im Besucherzentrum des ESA-Technologiezentrums ESTEC in Noordwijk (Niederlande). Erfahren Sie hier, wie sie den Startabend dort erlebt hat und was sie vom niederländischen ESA-Astronauten André Kuipers über die aktuelle Shuttle-Mission erfuhr.

Ein Beitrag von Kirsten Müller

Luftbildaufnahme des ESA-Technologiezentrums ESTEC. (Foto: ESA-A. Van Der Geest)

Wie schon von Raumfahrer.net berichtet sollte am Samstag, dem 1. Juli 2006, ursprünglich das Space Shuttle Discovery zum Flug STS-121 (der „Astrolab-Mission“) starten. Zwei Stunden vor dem geplanten Start ziehen jedoch Gewitter über Cape Canaveral auf, die eine Startverzögerung zur Folge haben könnten. Gegen 19:20 Uhr (MESZ) meldet CNN eine 60-prozentige Chance auf „No-Go“. Ich setze mich trotzdem ins Auto und fahre zum „Noordwijk Space Expo“, dem Besucherzentrum des ESA-Technologiezentrums ESTEC (= European Space Research and Technology Center) in Noordwijk (Niederlande).

Dorthin, wie auch in die anderen ESA-Zentren in Oberpfaffenhofen, Darmstadt, Rom und Paris, hatte die ESA zu Presseveranstaltungen anlässlich des Starts geladen. Während es im deutschen Oberpfaffenhofen sehr voll ist mit Fernseh- und verschiedenen anderen Reportern, mutet die Veranstaltung in Noordwijk richtig lauschig an. Die meisten Anwesenden sind ESA-Mitarbeiter, und auch der niederländische ESA-Astronaut André Kuipers ist anwesend.

Gegen 21:35 Uhr sitzen etwa 80 Leute erwartungsvoll vor dem Grossbildschirm und folgen der Live-Übertragung von NASA-TV aus dem Startkontrollzentrum. Als allerdings nach fünf Minuten die Ankündigung des Startabbruchs kommt, wird spontan umgeschaltet auf das Fussball-WM-Spiel Frankreich gegen Brasilien…

An Bord der Raumfähre wird, neben sechs US-Astronauten, der deutsche ESA-Astronaut Thomas Reiter als erster ESA-Astronaut zu einer Langzeitmission auf die Internationale Raumstation (ISS) aufbrechen. Insgesamt soll er etwa fünf Monate an Bord der Raumstation verbringen, während seine amerikanischen Kollegen 13 Tage nach dem Start wieder zur Erde zurückkehren sollen. Reiters Rückkehr ist vorläufig für Dezember 2006, mit der Space Shuttle-Mission STS-116, geplant.

Für den 48-jährigen Reiter soll „Astrolab“ die zweite Langzeitmission werden. 1992 wird der Testpilot ins ESA-Astronautenkorps berufen. Seine erste Langzeitmission fliegt er 1995/96: im Rahmen des Projektes „Euromir 95“ verbringt er 179 Tage auf der Raumstation MIR. Hierbei führt er 40 wissenschaftliche Experimente durch und unterstützt seine Kollegen Sergej Avdeev und Juri Gidzenko bei Wartungsarbeiten an der Raumstation, wobei er auch zweimal die Möglichkeit bekommt, Außenbordeinsätze (EVAs) durchzuführen.

Mit der Astrolab-Mission wird Reiter nicht nur der erste Europäer, der einen Langzeitaufenthalt auf der ISS absolvieren wird, auch wird er 31 Tage nach seinem Start den Langzeit-Europarekord von Jean-Pierre Haigneré übertreffen, der bei 209 Tagen liegt, und außerdem am Ende seiner Mission mehr als ein Jahr seines Lebens im Weltraum verbracht haben. Die wissenschaftliche Kontrolle über die Mission wird vom Columbus-Kontrollzentrum in Oberpfaffenhofen ausgehen.

STS-121 wird an Bord der Discovery das MPLM (Multi Purpose Logistics Module) Leonardo mitnehmen. Dieses kann für die Dauer der Mission an die Raumstation angedockt werden, kann größere Experiment-Hardware an Bord der Raumstation geben und andere Geräte, die nicht mehr gebraucht werden, im Shuttle wieder zur Erde zurücknehmen. Auch wird das Shuttle MELFI an Bord der ISS bringen, ein Kühlsystem, mit dem Blutproben und ähnliches auf -80° C abgekühlt werden können.

Thomas Reiter wird während seines Aufenthaltes wissenschaftliche Experimente aus den Gebieten der menschlichen Physiologie, der Biologie, der Physik, der Strahlungsdosimetrie und der allgemeinen Technologie durchführen, außerdem wird er Beiträge zur Lehre an allgemeinbildenden Schulen und an Universitäten liefern. Darüber hinaus wird er der erste Europäer sein, der von der ISS aus einen Außenbordeinsatz (EVA) ausführen wird.

Während Reiters Weltraumaufenthalt haben interessierte Besucher der Noordwijk Space Expo die Möglichkeit, regelmäßig Informationen über den Verlauf der Mission zu erfahren. Hin und wieder besteht vielleicht auch die Möglichkeit, dass Live-Bilder aus der Raumstation gezeigt werden. Nähere Informationen gibt es auf www.space-expo.nl. [Edit 2021: Link nicht mehr vorhanden]

Raumfahrer.net hatte in Noordwijk kurz die Gelegenheit, sich mit dem niederländischen Astronauten André Kuipers zu unterhalten, der im April 2004 im Rahmen der Delta-Mission knapp neun Tage auf der ISS zugebracht hat.

Raumfahrer.net: Warum, denken Sie, ist ausgerechnet Thomas Reiter, wo er doch schon Langzeiterfahrung auf der MIR mitbringt, für diese Mission ausgewählt worden?

André Kuipers: Wir werden nach einer bestimmten Reihenfolge eingesetzt. Der lange Flug von Thomas war ja schon 1995, das ist ja schon wieder einige Zeit her, deshalb stand er schon wieder lange auf der „Warteliste“ für eine neue Mission. Eigentlich hätte er für den ersten Flug des Columbus-Moduls eingesetzt werden sollen, weil dazu ja Deutschland signifikant beigetragen hat, aber der ist immer wieder verschoben worden. Auch ist dies ein Flug, für den die ESA das Geld bereitgestellt hat, während die meisten bisherigen Aufenthalte von ESA-Astronauten auf der ISS von den Heimatländern der jeweiligen Astronauten finanziert worden sind.

RN: In wiefern denken Sie, dass die Rolle Deutschlands innerhalb des Programms dazu beigetragen hat, dass Reiter diesen Flug bekommen hat und nicht jemand anders?

Kuipers: Das spielt schon eine Rolle. Die Länder, die den höchsten Beitrag liefern, bekommen am ehesten ihre Astronauten nach oben. Zunächst ist im Dezember 2006 die Shuttle-Mission STS-116 geplant, bei der Christer Fuglesang zwei Weltraumspaziergänge durchführen soll. Im August 2007 wird der Italiener Paolo Nespoli am Flug STS-120 teilnehmen. Während dieses Fluges soll die Node-2 an die Raumstation angebaut werden, woran im November/Dezember 2007 das Columbus-Modul andocken soll. Hans Schlegel wird dieses Modul mit in den Weltraum begleiten, der französische Astronaut Leopold Eyharts wird es in Gebrauch nehmen. Danach werden auch kanadische und japanische Astronauten an Missionen teilnehmen.

RN: Welche Experimente von Ihrer Mission wird Thomas Reiter ebenfalls ausführen oder weiterführen?

Kuipers: Die physiologische Experiment ETD (Eye Tracking Device) und Immuno, verschiedene cardiovaskuläre Experimente, das ESA-Experiment PEMS (Percutaneous Electrical Muscle Stimulator) zur Muskeluntersuchung und das PFS (Pulmonary Function System) zur Untersuchung der Lungenfunktionen. Außerdem wird er über das Amateurfunksystem ARISS vom Weltraum aus Kontakt haben mit Schülern in deutschen Schulen, und es wird von der Mission eine DVD für Schüler herausgegeben werden.

RN: Zu guter Letzt: Was für Tipps würden Sie Thomas Reiter mit auf den Weg geben?

Kuipers: Er hat doch viel mehr Weltraumerfahrung als ich, wieso sollte ich ihm denn Tipps geben… Im amerikanischen Teil ist es ruhiger, aber das wird er selbst auch merken. Der angenehmste Aufenthaltsort ist [das Verbindungsmodul] Node-1, und ansonsten würde ich ihm empfehlen, viel aus dem Fenster zu schauen!

RN: Herr Kuipers, vielen Dank für dieses Gespräch.

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