Der Solar Orbiter der ESA wird in den nächsten Tagen durch die Schweife des Kometen ATLAS fliegen. Obwohl die kürzlich gestartete Raumsonde zu diesem Zeitpunkt noch keine wissenschaftlichen Daten sammeln sollte, haben die Experten der Mission sichergestellt, dass die vier wichtigsten Instrumente während dieser einzigartigen Begegnung eingeschaltet sind. Eine Pressemitteilung der Europäischen Raumfahrtagentur (European Space Agency, ESA).
Quelle: ESA.
Der Solar Orbiter wurde am 10. Februar 2020 gestartet. Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung aufgrund der Coronavirus-Pandemie, haben Wissenschaftler und Ingenieure seither eine Reihe von Tests durchgeführt und nach und nach alle Instrumente in Betrieb genommen.
Das Fertigstellungsdatum für diese Phase wurde auf den 15. Juni festgelegt, so dass die Raumsonde zwei Tage später für ihren ersten Nahvorbeiflug an der Sonne – dem Perihel – voll funktionsfähig sein könnte. Aufgrund der Entdeckung der zufälligen Begegnung mit dem Kometen hat die Dringlichkeit aber zugenommen.
Ein zufälliger Flug durch den Schweif eines Kometen ist ein seltenes Ereignis auf einer Weltraummission und hat nach Kenntnis der Wissenschaft bislang erst sechs Mal bei Missionen stattgefunden, die sich nicht speziell auf Kometenjagd befanden. All diese Begegnungen wurden erst nach dem Ereignis anhand der Daten der Raumsonde entdeckt. Der bevorstehende Durchflug des Solar Orbiter ist der erste, der bereits im Vorfeld erwartet wird.
Erkannt wurde das bevorstehende Ereignis von Geraint Jones vom UCL Mullard Space Science Laboratory in Großbritannien, der solche Begegnungen bereits seit 20 Jahren erforscht. Er entdeckte die erste zufällige Durchquerung eines Kometenschweifs im Jahr 2000, als er eine seltsame Anomalie in den Daten untersuchte, die 1996 von Ulysses, der Raumsonde der ESA und der NASA zur Erforschung der Sonne, aufgezeichnet worden waren. Diese Untersuchung ergab, dass die Raumsonde den Schweif des Kometen Hyakutake, auch bekannt als ‘der Große Komet von 1996’, durchquert hatte. Kurz nachdem dies bekannt geworden war, flog Ulysses auch durch den Schweif eines zweiten und schließlich 2007 eines dritten Kometen.
Als Jones Anfang des Monats erkannte, dass der Solar Orbiter in nur wenigen Wochen 44 Millionen Kilometer vom Kometen C/2019 Y4 (ATLAS) entfernt sein würde, informierte er unverzüglich das ESA-Team.
Bonusmaterial für die Wissenschaft
Der Solar Orbiter ist mit einem Satz von 10 In-situ- und Fernerkundungs-Instrumenten ausgestattet, um den Sonnenwind, den stetigen Strom geladener Teilchen, den die Sonne in den Weltraum freisetzt, zu untersuchen. Die vier In-situ-Instrumente eignen sich zufällig auch perfekt für die Erkennung der Kometenschweife, da sie die Bedingungen rund um die Raumsonde messen und so Daten über die Staubpartikel und die elektrisch geladenen Teilchen, die der Komet ausstößt, liefern könnten. Diese Emissionen bilden die zwei Schweife des Kometen: den Staubschweif, der in der Kometenbahn zurückbleibt, und den Ionenschweif, der immer von der Sonne weggerichtet ist.
Der Solar Orbiter wird vom 31. Mai bis 01. Juni den Ionenschweif und am 6. Juni den Staubschweif des Kometen ATLAS durchqueren. Wenn der Ionenschweif dicht genug ist, könnte das Magnetometer (MAG) des Solar Orbiter die Variation des interplanetaren Magnetfelds aufgrund seiner Wechselwirkung mit den Ionen im Kometenschweif erkennen, während der Sonnenwind-Plasma-Analysator (Solar Wind Plasma Analyser – SWA) einige der Schweifpartikel direkt erfassen könnte.
Wenn der Solar Orbiter den Staubschweif kreuzt, ist es je nach seiner Dichte – die äußerst schwer vorherzusagen ist – möglich, dass ein oder mehrere winzige Staubpartikel mit einer Geschwindigkeit von mehreren Dutzend Kilometern pro Sekunde auf die Raumsonde treffen. Zwar besteht hierdurch kein signifikantes Risiko für das Raumfahrzeug, die Staubteilchen selbst werden jedoch beim Aufprall verdampfen und winzige Wölkchen aus elektrisch geladenem Gas oder Plasma bilden, die vom Radio- und Plasmawellen-Instrument (Radio and Plasma Waves – RPW) erfasst werden könnten.
„Eine unerwartete Begegnung wie diese bietet einer Mission einzigartige Chancen und Herausforderungen – und das ist auch gut so! Chancen wie diese sind Teil des Abenteuers der Wissenschaft“, meint Günther Hasinger, ESA-Direktor für Wissenschaft.
Eine dieser Herausforderungen bestand darin, dass die Instrumente wegen der Inbetriebnahme wahrscheinlich nicht alle rechtzeitig bereit sein würden. Dank des besonderen Einsatzes der Instrumenten-Teams und des Mission Operations Teams der ESA werden nun alle vier In-situ-Instrumente eingeschaltet sein und Daten sammeln, auch wenn die Instrumente zu bestimmten Zeiten wieder in den Inbetriebnahmemodus geschaltet werden müssen, um sicherzustellen, dass der Termin am 15. Juni eingehalten wird.
„Mit diesen Einschränkungen sind wir für alles gerüstet, was uns der Komet ATLAS mitzuteilen hat“, erklärt Daniel Müller, ESA-Projektwissenschaftler für Solar Orbiter.
Erwarte das Unerwartete
Eine weitere Herausforderung stellt das Verhalten des Kometen dar. Der Komet ATLAS wurde am 28. Dezember 2019 entdeckt. Während der darauffolgenden Monate wurde er immer heller und Astronomen hatten gehofft, dass er im Mai mit bloßem Auge sichtbar sein würde.
Doch leider zerbrach der Komet Anfang April in mehrere Teile, was dazu führte, dass er deutlich an Helligkeit verlor und die Hoffnungen der Himmelsbeobachter schwanden. Eine weitere Fragmentierung Mitte Mai verkleinerte den Kometen noch weiter, so dass sich die Wahrscheinlichkeit, dass er vom Solar Orbiter erkannt wird, verringert hat.
Geraint Jones ist der Ansicht, dass sich der Aufwand dennoch lohnt, obwohl die Chancen auf Entdeckung gesunken sind. „Bei jeder Begegnung mit einem Kometen erfahren wir mehr über diese faszinierenden Objekte. Wenn der Solar Orbiter die Anwesenheit des Kometen ATLAS entdeckt, erfahren wir mehr darüber, wie Kometen mit dem Sonnenwind interagieren, und können zum Beispiel prüfen, ob unsere Erwartungen an das Verhalten des Staubschweifes mit unseren Modellen übereinstimmen“, erklärt er. „Alle Missionen, bei denen Begegnungen mit Kometen stattfinden, liefern Teile des Puzzles.“
Geraint Jones ist leitender Wissenschaftler der künftigen ESA-Mission Comet Interceptor, einer dreiteiligen Raumsonde, deren Start für 2028 geplant ist. Sie wird sehr nahe an einem Kometen vorbeifliegen, der zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unbekannt ist. Ein geeigneter Komet wird zu einem späteren Zeitpunkt, der näher am Starttermin (oder sogar danach) liegt, erst noch von den Wissenschaftlern ausgewählt.
Erforschung der Sonne
Der Solar Orbiter umkreist derzeit unseren Mutterstern zwischen den Orbits von Venus und Merkur, wobei das erste Perihel für den 17. Juni geplant ist, mit einem Abstand von ca. 77 Millionen Kilometern von der Sonne. In den kommenden Jahren wird der Solar Orbiter in etwa 42 Millionen Kilometern Entfernung von der Sonne – im Orbit des Merkurs – seine Umlaufbahn erreicht haben. Der Komet ATLAS ist bereits dort und nähert sich seinem Perihel mit einem Abstand von etwa 37 Millionen Kilometern von der Sonne, das für den 31. Mai erwartet wird.
„Diese Durchquerung eines Kometenschweifs ist auch deshalb so aufregend, weil sie zum ersten Mal in einer derart geringen Entfernung von der Sonne stattfinden wird, wobei sich der Kometenkern innerhalb der Umlaufbahn des Merkurs befindet“, sagt Yannis Zouganelis, stellvertretender ESA-Projektwissenschaftler für Solar Orbiter.
Das Verständnis der Staubumgebung in der innersten Region des Sonnensystems ist eines der wissenschaftlichen Ziele des Solar Orbiter.
„Sonnennahe Kometen wie der Komet ATLAS sind Quellen von Staub in der inneren Heliosphäre, deshalb wird diese Studie nicht nur dazu beitragen, den Kometen, sondern auch die Staubumgebung unseres Zentralgestirns besser zu verstehen“, ergänzt Yannis Zouganelis.
Der Blick auf ein eisiges Objekt statt auf die sengende Sonne ist sicherlich eine aufregende – und unerwartete – Möglichkeit für den Solar Orbiter zu Beginn seiner wissenschaftlichen Mission. Aber so funktioniert nun einmal die Wissenschaft.
„Wissenschaftliche Entdeckungen beruhen auf guter Planung und glücklichem Zufall. In den drei Monaten seit dem Start der Mission hat das Solar Orbiter-Team bereits bewiesen, dass es auf beides vorbereitet ist“, so Daniel Müller.