Astronomen ist es erstmals gelungen, die sogenannte Schneegrenze um den sonnenähnlichen Stern TW Hydrae zu ermitteln. Durch die Untersuchung dieser Grenzregion können Wissenschaftlern nicht nur mehr über die Entstehung von Planeten und Kometen im Allgemeinen erfahren. Vielmehr lässt sich dadurch auch die Entstehungsgeschichte unseres eigenen Sonnensystems näher ergründen.
Ein Beitrag von Ralph-Mirko Richter. Quelle: ESO, Science.
Was den Ägyptologen ihr Stein von Rosette und den Genetikern ihre Fruchtfliegen, das ist für Astronomen, welche sich mit der Entstehung von Planetensystemen befassen, der im Sternbild Wasserschlange (lateinischer Name „Hydra“) gelegene Stern TW Hydrae: Ein besonders gut zugängliches Schlüsselobjekt, dessen eingehende Untersuchung die Forschungsgrundlagen für ein ganzen Fachgebiet legen kann. Dieser lediglich 176 Lichtjahre von unserem Sonnensystem entfernt befindliche Vertreter der T-Tauri-Sterne verfügt über ein noch sehr junges Alter von etwa drei bis zehn Millionen Jahren und ist von einer sogenannten protoplanetaren Scheibe umgeben.
In dieser flachen, ringförmig verlaufenden Scheibe verbinden sich die darin enthaltenen Partikel aus Staub und Eis zu immer größeren Objekten, aus denen letztendlich ganze Planeten hervorgehen werden. Auf diese Weise ist vor mehr als 4,5 Milliarden Jahren auch unser Sonnensystem entstanden. Allgemein wird davon ausgegangen, dass das angehende Planetensystem von TW Hydrae ähnliche Eigenschaften aufweist wie unser eigenes Sonnensystem in einem Alter von nur wenigen Millionen Jahren.
Astronomen ist es jetzt erstmals gelungen, eine der sogenannten „Schneegrenzen“ im Inneren der protoplanetaren Scheibe von TW Hydrae zu ermitteln. Für ihre Untersuchungen verwendeten die beteiligten Wissenschaftler das erst kürzlich offiziell in Betrieb gestellte, in den chilenischen Anden befindliche Atacama Large Millimeter/Submillimeter Array (kurz „ALMA“).
Die Schneegrenze
Auf der Erde wird mit der Schneegrenze eine Höhengrenze bezeichnet, oberhalb derer die Luftfeuchtigkeit aufgrund von niedrigen Umgebungstemperaturen in Schnee umgewandelt wird. Speziell an Berghängen ist diese Schneegrenze in den Bereichen, wo die schneebedeckten Berggipfel in nacktes Gestein übergehen, auf Satelliten- oder Luftaufnahmen deutlich erkennbar. In der Astronomie wird mit der Schneegrenze dagegen der Bereich einer protoplanetaren Scheibe bezeichnet, ab dem sich erdähnliche Planeten oder Gasriesen um einen jungen Stern bilden können.
Im inneren Bereich einer protoplanetaren Scheibe sind die Temperaturen so hoch, dass die dort vorhandenen Stoffe lediglich im gasförmigen Zustand existent sind. Mit zunehmendem Abstand zum Stern und den damit verbundenen immer weiter abfallenden Temperaturen frieren diese Materialien jedoch aus. Aufgrund der unterschiedlichen Schmelztemperaturen der verschiedenen Stoffe finden sich dabei mehrere Schneegrenzen bei unterschiedlichen Abständen vom Stern. Zunächst friert dabei das Wasser aus und bildet eine erste Schneegrenze. Noch weiter vom Stern entfernt frieren bei noch niedrigeren Temperaturen weitere Stoffe wie Kohlenstoffdioxid, Methan und Kohlenstoffmonoxid aus und werden ebenfalls zu „Schnee“.
In diesem „festen Zustand“ lagern sich diese ausgefrorenen Stoffe an den ebenfalls in der protoplanetaren Scheibe vorhandenen Staubpartikeln ab und umschließen diese mit einer Art klebriger Hülle. Hierdurch wird verhindert, dass die Staubkörner bei Kollisionen mit anderen festen Partikeln wieder auseinanderbrechen. Stattdessen gewinnen die Staubkörner bei den Kollisionen mit anderen Partikeln immer weiter an Masse und werden so schließlich zu den Grundbausteinen von Planeten und Kometen. Die gefrorenen Gaspartikel vergrößern zusätzlich den Anteil der festen Materie in der protoplanetaren Scheibe und könnten dadurch den Prozess der Planetenentstehung beschleunigen.
Jede einzelne dieser Schneegrenzen – für Wasser, Kohlenstoffdioxid, Methan und Kohlenmonoxid – könnte mit der Entstehung bestimmter Planetentypen in Zusammenhang stehen. Gesteinsplaneten bilden sich so zum Beispiel nach den gängigen Modellen der Planetenentstehung im Bereich der Wasser-Schneegrenze, welche sich noch relativ nahe am Zentralstern befindet. Auf der anderen Seite entstehen Gasplaneten lediglich jenseits der weiter außen gelegenen Kohlenstoffmonoxid-Schneegrenze. Um einen sonnenähnlichen Stern, welcher über ein Planetensystem wie dem unsrigen verfügt, würde die Wasser-Schneegrenze dem Bereich zwischen den Umlaufbahnen von Mars und Jupiter entsprechen, während die Kohlenstoffmonoxid-Schneegrenze etwa bei der Umlaufbahn des Planeten Neptun liegen würde.
Die Schneegrenze bei TW Hydrae
Astronomen ist es jetzt erstmals gelungen, mit dem Radioteleskop ALMA, welches besonders gut für den Nachweis der Strahlung von Molekülen bei niedriger Umgebungstemperaturen geeignet ist, die Kohlenstoffmonoxid-Schneegrenze um den Stern TW Hydrae zu identifizieren. Bis zu den neuen Beobachtungen war es nicht möglich, die exakte Position und Ausdehnung der Schneegrenze zu bestimmen, da der Beginn dieser Übergangszone nur einem relativ schmalen Bereich im Inneren der protoplanetaren Scheibe einnimmt.
Bei den Beobachtungen wandte das Astronomenteam einen Trick an. Anstatt direkt nach dem Schnee Ausschau zu halten, welcher nicht direkt beobachtet werden kann, suchten die Wissenschaftler nach einem Molekül namens Diazenyl.
Diazenyl-Ionen weisen zwei Eigenschaften auf, durch welche sie sich für solche Untersuchungen anbieten. Zum einen „strahlen“ sie im Millimeterbereich des elektromagnetischen Spektrums und lassen sich deshalb mit ALMA hervorragend detektieren. Zum anderen reagiert Diazenyl sehr leicht mit gasförmigen Kohlenstoffmonoxid und wird dabei von diesem vollständig zerstört. In nachweisbaren Mengen ist Diazenyl deshalb nur in einem Bereich der protoplanetaren Scheibe aufzufinden, wo das Kohlenstoffmonoxid bereits zu Schnee ausgefroren ist und das Diazenyl daher nicht zerstört werden kann. Auf diese Weise wird der Nachweis von Diazenyl zu einem Schlüssel für den indirekten Nachweis von Kohlenstoffmonoxid-Schnee.
Die einzigartige Empfindlichkeit und das Auflösungsvermögen von ALMA ermöglichten es den Astronomen, das Vorhandensein und die Verteilung von Diazenyl in der Umgebung von TW Hydrae im Detail zu untersuchen.
„Auf diese Weise haben wir gewissermaßen ein Fotonegativ des Kohlenmonoxid-Schnees in der Scheibe um TW Hydrae erhalten“, so Karin Oberg von der Harvard University, eine der an der Studie beteiligten Wissenschaftlerinnen. Dabei sind die Astronomen auf eine scharfe Grenze für den Übergang zwischen gasförmigem und gefrorenem Kohlenmonoxid bei einem Abstand von etwa 30 Astronomischen Einheiten vom Stern gestoßen.
„Dank ALMA haben wir jetzt das erste echte Bild einer Schneegrenze um einen jungen Stern. Das verrät uns zugleich auch einiges über die erste Phase der Entstehungsgeschichte unseres eigenen Sonnensystems“, so Chunhua Qi vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics in Cambridge/USA, ein weiterer an der Arbeit beteiligter Wissenschaftler. „Wir sind jetzt in der Lage Details über die eisigen Außenbereiche eines fernen, sonnenähnlichen Planetensystems zu erfahren, die uns zuvor verborgen geblieben sind.“
Tatsächlich, so die Wissenschaftler, könnte das Vorhandensein der Kohlenstoffmonoxid-Schneegrenze und die damit verbundene Entstehung von Eispartikeln in einer protoplanetaren Scheibe allerdings noch weitreichendere Konsequenzen als „nur“ die Entstehung von Planeten haben. Kohlenstoffmonoxid-Eis wird für die Entstehung von Methanol benötigt – einem der Grundbausteine komplexerer organischer Moleküle. Kometen und Asteroiden, welche sich gegenwärtig in diesem Bereich der Scheibe von TW Hydrae bilden, können dieses Methanolmoleküle jetzt aufnehmen, später in das innere Planetensystem befördern und auf diese Weise eventuell die dortige Entstehung von Leben auslösen.
Das Verbundteleskop ALMA
„Für unsere Beobachtungen standen uns lediglich 26 der 66 Antennen von ALMA zur Verfügung. Anzeichen für den Nachweis der Schneegrenzen bei anderen Sternen haben sich inzwischen noch in weiteren ALMA-Daten gezeigt, und wir gehen daher davon aus, dass zukünftige Beobachtungen mit der gesamten Anlage noch viele weitere solcher Schneegrenzen werden nachweisen können. Uns erwarten viele spannende Einblicke in die Entstehung und Entwicklung von Planeten – wir müssen nur abwarten“, schließt Michiel R. Hogerheijde von der Sterrewacht Leiden in den Niederlanden.
Das Atacama Large Millimeter/Submillimeter Array ist eine internationale astronomische Einrichtung, welche gemeinsam von Europa, Nordamerika und Ostasien in Zusammenarbeit mit der Republik Chile getragen wird. Von europäischer Seite aus wird ALMA über die Europäische Südsternwarte (ESO) finanziert, in Nordamerika von der National Science Foundation (NSF) der USA in Zusammenarbeit mit dem kanadischen National Research Council (NRC) und dem taiwanesischen National Science Council (NSC), und in Ostasien von den japanischen National Institutes of Natural Sciences (NINS) in Kooperation mit der Academia Sinica (AS) in Taiwan. Bei der Entwicklung, dem Aufbau und dem Betrieb von ALMA ist die ESO federführend für den europäischen Beitrag, das National Radio Astronomy Observatory (NRAO), das seinerseits von Associated Universities, Inc. (AUI) betrieben wird, für den nordamerikanischen Beitrag und das National Astronomical Observatory of Japan (NAOJ) für den ostasiatischen Beitrag. Dem Joint ALMA Observatory (JAO) obliegt die übergreifende Projektleitung für den Aufbau, die Inbetriebnahme und den Beobachtungsbetrieb von ALMA.
Die hier kurz vorgestellten Forschungsergebnisse wurden am 18. Juli 2013 unter dem Titel „Imaging of the CO Snow Line in a Solar Nebula Analog“ in der Online-Ausgabe von Science Express veröffentlicht.
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Abstract des Fachartikels bei Science Express:
- Imaging of the CO Snow Line in a Solar Nebula Analog (Abstract, engl.)