Stratosphärenspringer und Phantomkosmonaut – Zum 55. Todestag
Zur Yuris’s Night am 12. April 2017 hielt Andreas Weise einen Vortrag im Wiener Naturhistorischen Museum. Der Vortrag basierte auf dem folgenden Artikel.
Ein Beitrag von Andreas Weise. Quelle: Recherche.
Prolog
…in uralten vergilbten Zeitungen geblättert…
Lesen in alten Printmedien ist interessant. In vielen alten Zeitschriften und Magazinen, die auch schon mal ein halbes Jahrhundert und älter seien dürfen, finden sich Beschreibungen und Hinweise auf Geschichten und Geschichte, die im Abstand der heutigen Zeit zwar fast vergessen, aber wieder ausgegraben immer noch spannend sind.
Der November 1962 war eine sehr bewegte Zeit. Außenpolitisch war die Menschheit gerade knapp an ihrer eigenen Vernichtung vorbei geschrammt, ohne sich dessen wirklich richtig bewusst geworden zu sein. Die sogenannte Kuba-Krise als Fast-Auslöser eines Atomkrieges war erst wenige Tage her. In der alten Bundesrepublik beschäftigte man sich innenpolitisch mit der SPIEGEL-Affäre. Herausgeber Rudolf Augstein saß wegen des Vorwurfs des Landesverrates gerade in Untersuchungshaft. Die Topmeldung zur Raumfahrt in der DDR war am 2. November der Start der sowjetischen Sonde Mars 1. Ein Thema, das in der Ostberliner Presse bereitwillig ausgebreitet wurde, in den Westberliner Zeitungen aber nur kurz Erwähnung fand. Hinter diesem medialen Hintergrund verblüffte es schon ein wenig, dass das Hamburger Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL am 21. November 1962 auf einer der letzten Seiten folgende kleine Notiz brachte:
„GESTORBEN . . .
. . . PJOTR IWANOWITSCH DOLGOW, 41, sowjetischer Oberst, Konstrukteur der Schleudersitze für die sowjetischen Weltraumschiffe vom Typ „Wostok“ und Weltrekord-Fallschirmspringer; nach einer Meldung der sowjetischen Armeezeitung „Roter Stern“ in „Ausübung seiner Pflichten“.“
(zitiert aus DER SPIEGEL, 21.11.1962, Nr.47, Seite 132)
Es muss also etwas Besonderes mit diesem Oberst Dolgow auf sich haben, wenn ein westliches Nachrichtenmagazin diesen Sowjetmenschen bemerkt und für erwähnenswert erachtet.
Pjotor Iwanowitsch Dolgow wurde am 21. Februar 1920 im Dorf Bogojawlenski, heute Dolgowo, im Gebiet Pensa geboren. Seine Eltern waren Bauern. Ab 1939 arbeitete er als Kraftfahrer und trat 1940 in die Rote Armee ein. 1942 beendete er die Militärschule. Im zweiten Weltkrieg kämpfte er bei den Luftlandetruppen an den Kampfabschnitten der zweiten und dritten Ukrainischen Front.
1947 beendete er seine Ausbildung an der Militärschule der Luftlandetruppen in Rjasan. In den darauf folgendem Jahren wurde er Fallschirmspringer-Ausbilder und Testspringer für Fallschirmsysteme. Er ist Anfang der 60er Jahre einer der wichtigsten Erprobungsspringer und Testpilot für Fallschirmrettungssysteme. Auf sein Konto gehen 1.409 Sprünge, in der Mehrzahl Test- und Erprobungssprünge, sowie 52 Testkatapultierungen. Er testete Rettungssysteme für 25 verschiedene Typen für Flugzeuge und Hubschrauber.
Dolgow erzielte acht weltweite und unionsoffene Rekorde. Darunter sind Sprünge mit unverzögerter Öffnung bei Nacht aus 12.974 Metern Höhe und bei Tag aus 14.835 Metern Höhe. 1957 war Dolgow in der Volksrepublik China beim Aufbau der dortigen Luftstreitkräften tätig. Ihm wird zweimal der Leninorden, zweimal der Rotbannerorden und der Ehrentitel „Meister des Fallschirmsportes“ verliehen. Ein hoch-dekorierter Mann also.
Für die sich am geschichtlichen Horizont abzeichnende Raumfahrt wird Dolgow ab 1960 interessant…
Im Wostok-Programm…
Die praktische Erprobung des Schleudersitzes für die WOSTOK-Raumschiffe fand im Sommer 1960 statt. Das Landeszenario der WOSTOK sah vor, dass in 7.000 Meter Höhe die Luke der WOSTOK-Kapsel aufgesprengt wurde und der Kosmonaut mit dem Schleudersitz wenig später heraus katapultiert wurde. Unbemannte Versuche hatte es bereits Winter 1959/1960 gegeben. Bei Ihnen war aus einem Modell einer WOSTOK-Kapsel der Ausschuss eines Schleudersitzes oder Containers getestet worden. Die Kapsel war zuvor von einem Transportflugzeug des Typs AN-12 auf eine Abwurfhöhe zwischen 8.000 und 10.500 Metern gebracht worden.
Nun sollte die praktische Erprobung des Schleudersitzes für den Kosmonauten erfolgen. Dazu bediente man sich eines Spezialflugzeugs vom Typ IL-28LL (LL steht für летающая лаборатория – fliegendes Labor.). Diese Spezialversion des Bombenflugzeugs IL-28 konnte Katapultierungen von verschiedenen Schleudersitzvarianten durchführen. So zum Beispiel aus dem verlängerten Heck hinter dem Seitenleitwerk, wie auch aus dem umgebauten Bombenschacht nach unten und nach oben.
Für den Test des WOSTOK-Schleudersitzes wurde die Abschusseinrichtung im umgebauten Bombenschacht in der Mitte des Rumpfes, hinter der Pilotenkanzel eingebaut. Der Testspringer war in einem WOSTOK-Schleudersitz in kompletter Konfiguration angeschnallt und mit einem WOSTOK-Raumanzug bekleidet. Der Schleudersitz war senkrecht in den Rumpf eingeschoben. Die Blickrichtung des Testspringers lag in Flugrichtung. Der Ausschuss erfolgte senkrecht nach oben. Sieht man sich Zeichnungen vom Katapultvorgang bei der WOSTOK-Landung an, so fällt auf, dass der Kosmonaut immer mit dem Rücken zur Fallrichtung ausgeschossen wurde. Dementsprechend hätte der Testspringer im Flugzeugtest aber genau anders herum, entgegen der Flugrichtung, sitzen müssen. Solche Katapultierungen könnte es gegeben haben. Es gibt Videoaufnahmen, wo man eine Katapultierung mit dem Rücken zur Flugrichtung „erahnen“ kann. Leider sind die veröffentlichten Aufnahmen zu unscharf.
Acht Katapultierungen aus einer IL-28LL fanden zwischen Juli und September 1960 statt. Die Testspringer waren Pjotor Dolgow und Nikolai Nikitin. Letzterer konnte die dabei gewonnenen Erfahrungen gleich an die Mitglieder der ersten Kosmonautengruppe weiter geben. Nikitin wurde Fallschirmausbilder für die Kosmonauten der ersten Stunde. Auf vielen Fotos und Videoschnipseln ist Nikitin mit seinen Schützlingen bei der Fallschirmsprung-Ausbildung im Herbst 1960 zu sehen. Tragisch ist, dass ihn nur ein Jahr nach Dolgows Unfall ein ähnliches Schicksal traf. Er verunglückte am 28. Mai 1963 bei einem Fallschirmsprung tödlich.
Über Dolgow gibt es keine Informationen, dass er in irgendeiner Form an der Ausbildung der Kosmonautengruppe beteiligt war. Es heißt nur, dass er für die Entwicklung des Schleudersitzes der WOSTOK einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Er gilt als einer der Konstrukteure dieses Schleudersitzes.
Welchen Aufgaben sich Dolgow zwischen Herbst 1960 und 1962 gewidmet hat, ist spekulativ. Anzunehmen ist, dass er an der Erprobung von Schleudersitzen und Absprungverfahren aus großen Höhen beteiligt war. Also an Grundlagenforschung, die militärisch geheim war. Daher gibt es auch so gut wie keine Informationen. Im August 1964 erscheint in der DDR-Fliegerzeitschrift AERO-SPORT (heute FLIEGER REVUE) ein mehrseitiger großer Beitrag unter dem Titel „Der Mensch in der Stratosphäre“. In Erzählform wird die Testkatapultierung und der Testsprung aus einem Höhenflugzeug beschrieben. Dabei wird der Eindruck vermittelt, es könne sich um Pjotor Dolgow handeln. Dieser wird auch mehrfach mit Foto erwähnt, auf seinen Unfalltot 1962 wird hingewiesen.
Intermezzo
Verschwörungen, Mutmaßungen und Falschmeldungen
Wenn man über Dolgow schreibt, kommt man an einem Punkt nicht vorbei: An den im Internet nicht verstummenden Behauptungen, Dolgow sei einer derjenigen supergeheimen Kosmonauten, die vor Juri Gagarin in den Weltraum geflogen und dabei umgekommen sind. Ein sogenannter „Phantom Cosmonaut“ oder ein „Lost Cosmonaut“.
Nach diesen Meldungen soll Pjotor Dolgow am 11. Oktober 1960 einen Orbitalflug versucht haben und dabei ums Leben gekommen sein. Details zu diesem angeblichen Flug sind nicht zu finden. Die Quelle für diese Nachricht ist nicht genau lokalisierbar. Meistens werden die italienischen Gebrüder Judica-Cordiglia als Ursprung dieser Nachricht angegeben, die zu diesem Zeitpunkt in Turin eine private Funkabhörstation für Satelliten und Raumschiffe betrieben. Natürlich erscheint es hochgradig unlogisch, wenn jemand vor dem 12. April 1961 ums Leben gekommen sein soll, aber anderthalb Jahre später offiziell tödlich verunglückt.
Verwechselungen der Person durch die Schreibweise des Namens wie Dolgow, Dolgov, Dolgof oder Dolgoff sollten ausgeschlossen sein. Es ist meist die Rede vom „berühmten Fallschirmspringer“. Man fragt sich natürlich auch, warum es unbedingt der 11. Oktober 1960 gewesen sein muss. Ob es Zusammenhänge mit tatsächlichen Ereignissen gibt, ist fraglich. Durch die strenge Geheimhaltung drang dazu nichts an die Öffentlichkeit. Zu nennen wäre hier zum Beispiel die R-16-Katastrophe am 24. Oktober 1960. Hier explodierte eine Interkontinentalrakete auf dem Starttisch. Es war die vermutlich größte Katastrophe in der Geschichte der Raketentechnik mit über 120 Toten. Erst Jahrzehnte später drangen dazu Informationen an die Öffentlichkeit. Auch gab es Fehlstarts der Wostok-Trägerrakete. So am 28. Juli 1960 (Verlust eines Boosters nach 17 Sekunden Flug) oder am 22. Dezember 1960 (Fehlfunktion der dritten Stufe). Aber all das lässt sich nicht in Einklang mit einem angenommenen Raumflug von Dolgow am 11. Oktober 1960 bringen.
Trotzdem hält sich diese Geschichte hartnäckig im Internet und leider auch in so manchem sogenannten „Sachbuch“. Die Blütezeit für diese Story waren die Endachtziger und frühen neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts, wo gerade ein wenig der Schleier der Geschichte über so manches Geheimnis aus den Archiven der untergehenden Sowjetunion fetzenweise gelüftet wurde. Diese Quellen sprudelten nicht, sie tropften nur. Die wenigen neuen und unvollständigen Erkenntnisse wurden mit Mutmaßungen ergänzt. Mit dem heutigen Stand der Geschichtskenntnis sollte das eigentlich geklärt sein. Leider wird aber auch heute noch auf diese alten Geschichten zurück gegriffen, ohne neu zu recherchieren.
Weniger bekannt ist folgende Geschichte: 1973 erschien im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL eine vierteilige Fortsetzungsgeschichte unter dem Titel „Moskaus großer Bluff“. Der Verfasser dieses Beitrages war Leonid Wladimirow, Maschinenbauingenieur und MAI-Absolvent (Staatliches Luftfahrtinstitut Moskau), ehemaliger Mitarbeiter der Wissenschaftszeitung „знание сила“, ab 1966 in England lebend und Autor des Buches „The Russian space bluff“ (London 1971). Ein Insider, ein Mann vom Fach also. Und er schrieb im SPIEGEL folgendes:
„Ich selbst weiß nichts von derartigen Katastrophen.“ (Gemeint sind missglückte bemannte Flüge vor Gagarin.) „Dagegen ist mir bekannt, daß der Fallschirmspringer Pjotr Dolgow, der sich mit der Erprobung von Schleudersitzen befaßte, tödlich verunglückte. Dolgow sollte das Lande-System für künftige Raumpiloten testen — unter Bedingungen, die einem echten Raumflug entsprachen. Die Versuchsanordnung: In etwa 10 000 Meter Höhe wird eine hermetisch versiegelte Kapsel aus einem schweren Flugzeug abgeworfen; in ihr befindet sich ein Fallschirmspringer in Raumfahrerkleidung. Nach einem freien Fall von rund 3000 Metern erreicht die Kapsel etwa die gleiche Fallgeschwindigkeit, wie man sie für die Landekapsel eines Raumschiffes bei der Rückkehr zur Erde errechnet hat. In einer Höhe von 7000 Metern sprengen sich die Bolzen der Ausstiegsluke automatisch ab. Eine Sekunde danach setzt sich das Katapultsystem in Betrieb und schleudert den Piloten mit seinem Sitz heraus. Dann öffnet sich ein kleiner Bremsfallschirm, gefolgt von einem größeren, stabilisierenden Schirm; in einer Höhe von etwa vier Kilometern öffnet sich der Hauptfallschirm, gleichzeitig trennt sich der Sitz ab, und der Fallschirmspringer landet auf die übliche Art.“
(zitiert aus DER SPIEGEL, 30.07.1973, Nr.31, Seite 78)
Wladimirow berichtete im Spiegel außerdem, dass zwei Tests des Katapultsystems vorgenommen worden seien, bevor man Woronin aus Moskau befohlen habe, das Versuchsprogramm zu beschleunigen, um es schon am 1. März und nicht erst im Mai abschließen zu können. Dolgow, der laut Wladimirow bis dahin rund 500 Testsprünge und einige Tests von Schleudersitzsystemen absolviert hatte, sei bei seiner Landung tot und mit geplatztem Raumanzug aufgefunden worden. Korlojow habe laut Wladimirow nach Dolgows Tod eine Vergrößerung des Durchmessers der Ausstiegsluke und eine Verlängerung der Ausschussverzögerung nach Absprengen der Luke auf zwei Sekunden veranlasst.
Abgesehen davon, dass es eine spannende Geschichte ist, kann hier einiges nicht stimmen. Sowohl die Zeitangaben betreffend als auch den Sachverhalt selbst. Hier wurden offenbar viele Dinge miteinander vermengt. Weil damals eben nicht alle Informationen bekannt und vorhanden waren. Und im Abstand der vergangenen Jahre wissen wir jetzt eben mehr.
Dass Dolgow so ein Experiment, hätte er daran teilgenommen, überlebt haben muss, ist logisch – er verunglückte (erst) 1962 tödlich.
Versuche mit Puppen wurden kurz vor Gagarins Flug unternommen. Das waren bereits orbitale Raumflüge zum Test der Gesamtkonfiguration des Wostok-Raumschiffes. Die Flüge erfolgten am 9. März 1961 mit Korabl 4 und am 25. März 1961 mit Korabl 5.
Die Versuchsabwürfe von Modellen der Wostok-Kapsel aus Flugzeugen hatte es wirklich gegeben. Allerdings, wie oben beschrieben, schon im Winter 1959/1960. Sie fanden in Sary-Schagan in Kasachstan statt. Die Versuchskapsel wurde aus einem dafür hergerichteten Transportflugzeug vom Typ AN-12 aus 8.000 bis 10.500 Meter Höhe abgeworfen. Dabei wurden Versuchscontainer in der simulierten Landephase herauskatapultiert. Von fünf Versuchen war einer ein Fehlschlag. Beim fünften Versuch sollen sich an Bord Hunde befunden haben. Dass diese Versuche auch mit Menschen durchgeführt wurden, ist eher unwahrscheinlich, da der Wostok-Schleudersitz erst von Juli bis September 1960 erprobt wurde. Daran war Dolgow allerdings tatsächlich beteiligt, wie bereits erwähnt.
Also zurück zu den wirklichen Ereignissen. Gehen wir zum November 1962 …
Dolgows letzter Sprung – das Volga-Experiment
Es ist der 1. November 1962. Ein früher Morgen auf dem Militärischen Flugfeld der Stadt Wolsk, etwa 750 Kilometer südöstlich von Moskau entfernt zwischen Sartow und Samara am Ufer der Wolga. Unweit bei der Stadt Sartow war vor fast anderthalb Jahren Gagarin von seinem Weltraumflug zurück gekehrt.
An diesem Morgen ist eine riesige über 100 Meter lange Hülle ausgebreitet. Diese soll sich zu einem gigantischen Heliumballon in 25 Kilometer Höhe aufblasen – und eine kugelförmige Gondel mit zwei Testfallschirmspringern in diese Höhe tragen. Beide sollen springen. Der eine soll sich bis ca. 1.000 Meter Höhe durchfallen lassen und erst dann seinen Fallschirm öffnen. Der andere soll seinen Fallschirm sofort nach Absprung öffnen. So das Szenario. „Volga“ ist der Name der Gondel für die beiden Fallschirmspringer. Daraus abgeleitet wird dieser Versuch als das „Volga-Experiment“ in die Geschichte der Luftfahrt-Forschung eingehen.
Gegen 2:00 Uhr morgens ist die Bestätigung erfolgt, dass die Wetterbedingungen an diesem Tag geeignet sind. Die Fallschirmspringer werden geweckt. Die Startvorbereitungen sind in vollem Gange. Die Gondel selber hat in etwa die Größe einer Landekapsel eines Wostok-Raumschiffes. Genug Platz also für zwei Personen. Sie ist auf einem LKW aufgebaut, der auch als Startplattform dienen soll.
Um 6:00 Uhr Ortszeit holpert ein etwas klapprig wirkender Bus über die Grasnarbe des Flugfeldes. Der Mann, der aussteigt, ist Jewgeni Nikolajewitsch Andrejew, 36 Jahre, Offizier und Fallschirmtestspringer. Er ist bekleidet mit einem normalen Druckanzug in der „Winterausführung“, wie er zu diesem Zeitpunkt in den sowjetischen Luftstreitkräften üblich war. Als Druck-Pilotenhelm trägt Andrejew einen Gsh-4. Allerdings fehlt das normalerweise außen angebrachte Sonnenschutzvisier. Dieses würde beim geplanten Sprung aus der Stratosphäre aerodynamisch störend wirken. Trotz des Druckanzuges kann sich Andrejew in der Schutzkleidung recht gut bewegen. Kurz darauf ist auch der zweite Testfallschirmspringer zu sehen. Es ist Pjotr Iwanowitsch Dolgow. Er ist jetzt 42 Jahre alt.
Fast eine Stunde später: Um 7:04 Uhr steigt Andrejew in die Volga-Gondel ein. Dazu muß er rückwärts durch den Haupteinstieg durch ein weiteres Mannloch steigen, um in seinem Sitz im unteren Teil der Gondel Platz zu nehmen. Hier wird er von helfenden Händen angeschnallt und so für seinen Absprung vorbereitet. Über Ihm schwebt ein Druckdeckel, der, wenn er geschlossen ist, seinen Sitzbereich von der übrigen Gondeleinrichtung hermetisch abtrennt.
Auch Dolgow wird für den Einstieg vorbereitet. Sein Druckanzug vom Typ SI-3m wirkt schwerer und plumper als der von Andrejew. Der Glashelm, scherzhaft auch „Goldfischglashelm“ genannt, sitzt bereits mit der Halterung auf seinen Schultern. Das Helmglas besteht aus Acryl-Kunststoff mit nur einer Schicht. An der Vorderfront des Helmes ist eine Visierscheibe, die noch nach unten geöffnet werden kann. Der ganze Anzug hat große Ähnlichkeit mit einem „Schweren Schlauchtaucher“ wie aus einem Jules-Verne-Film, blos, dass der Helm nicht aus Kupfer ist.
Dolgow trägt eine helle Pilotenkappe. Normalerweise ist die passende Kappe für diesen Helm schwarz. Der Helm, bzw. der Druckanzug ist modifiziert. Dolgow soll nach einigen Quellen keine Sauerstoffmaske getragen haben. In einzelnen Videoschnipseln zu seinem Start ist aber so etwas wie eine helle Sauerstoffmaske zu erkennen. Der Anzug selber ist mit reinem Sauerstoff gefüllt, der direkt in den Helm eingelassen wird. Damit soll die Beweglichkeit erhöht werden. Mühselig ist die Prozedur des Anlegens der Ausrüstungsteile. Helfer zurren das Gurtzeug seiner Fallschirmausrüstung fest. Dolgow hat selber an der Konstruktion des Spezialfallschirmes mitgewirkt. Um 7:14 stapft er die Leiter zur Einstiegsluke hinauf. Der Einstieg ist mit der vielen Ausrüstung schwer. Dolgow’s Sitz ist direkt seitlich zur Einstiegsluke. Vor ihm befindet sich die Instrumententafel für die Bedienung der Gondel. Während Andrejew, der 90 Grad versetzt schräg unter ihm sitzt und nur auf den Absprung warten muss, hat Dolgow die Funktion des Piloten.
Um 7:44 Uhr erfolgt der Start. Der gigantische Heliumballon steigt auf. Dabei zieht er die Volga-Gondel seitlich vom Transport-LKW weg, so dass dieser beinahe umkippt. Es geht aber gut. Der Aufstieg der Volga-Gondel beginnt. Dabei sieht sie mit ihren spinnenartigen Landebeinen wie ein außerirdisches Raumschiff aus einem Sciencefiction-Film aus.
Über den möglichen Funkverkehr zwischen Volga-Gondel und Bodenstation ist nichts bekannt. Veröffentlicht ist darüber nichts. Trotzdem wird es ihn gegeben haben. An Hand der wenigen Informationen muss sich das folgende Geschehen so, oder so ähnlich abgespielt haben.
Zwischen zwei und drei Stunden dauert der Aufstieg auf 25 Kilometer Höhe. Hierbei schwanken die Zeitangaben in den Quellen sehr stark. Dann kommt das Signal für Andrejew zum Absprung. Andrejew sitzt eher in einer Wanne als einem Schleudersitz. Das Gefährt hat entfernte Ähnlichkeit mit dem Wostok-Schleudersitz. Die Wanne mit der integrierten Sitzschale wird seitlich in U-Schienenprofilen gehalten und ist schräg nach unten gerichtet eingeschoben. Der Raum selber ist vom übrigen Volumen der Volga-Gondel abgetrennt. Der Auslöser wird betätigt und es erfolgt die Dekomprimierung des Raumes, in dem Andrejew sitzt. Am Boden der Gondel öffnet sich eine Klappe und die Wanne mit der Sitzschale rutscht nach unten hinaus ins Freie, in die eisige luftlose Kälte der Stratosphäre.
Andrejew ist in seinem Sitz festgeschnallt und rutscht mit den Füßen voraus aus der Gondel. Pyrotechnik kommt bei diesem Ausstieg nicht zum Einsatz. Auch ist nicht beschreiben, ob ein Federmechanismus den Sitz heraus treibt. Auch könnte durch eine schlagartige Dekompression mittels aufsprengen des Lukendeckels an der Unterseite die Sitzwanne im Sog mit herausgezogen worden sein. All diese Mechanismen bringen aber die Volga-Gondel ins schwingen – mehr oder weniger. Und das ist natürlich sehr unvorteilhaft für den Piloten Dolgow, der ja noch in seinem Sitz angeschnallt ist.
Es ist eher zu vermuten, dass der Sitz einfach durch die Schwerkraft nach unten ins Freie gefallen ist, nachdem die Dekompression langsam erfolgte. Die einfachste, primitivste technische Lösung kann auch manchmal die beste Lösung sein. Im Augenblick von Andrejews Ausstieg hat die Volga-Gondel die Flughöhe von 25.451 Metern erreicht.
Andrejew fällt. Eisige Kälte umfasst ihn, der ja nur einen „normalen“ Druckanzug für Militärflieger trägt. Die Temperatur beträgt bis zu minus 60 Grad Celsius. Trotz der ungehinderten Sonneneinstrahlung an diesem Morgen beschreibt Andrejew später den Himmel als tiefdunkel. Er ist an seine Sitzschale angeschnallt. Nach 270 Sekunden löst er sich vom Sitz und er fällt allein ohne Stabilisierungsschirm. Andrejew hat keine Kontrolle über seinen Fall in diesem Moment. Er fällt rücklings. Erst ab einer Höhe von ca. 12.000 Meter gelingt es ihm, sich umzudrehen.
Die Hände sind trotz der dicken Handschuhe eisig und er kann sie kaum bewegen, um den Fall irgendwie zu steuern. Das Visier seines Helmes ist beschlagen und er kann kaum etwas sehen. Erst in 1.200 Metern, andere Quellen sprechen von 800 Metern, öffnet sich sein Fallschirm automatisch. Nach einer Gesamtfallzeit von 7 Minuten und 30 Sekunden landet er sicher. Während seines freien Falls soll er kurze Zeit fast 900 km/h erreicht haben. Andrejew ist froh, sicher gelandet zu sein.
Zwei Jahre zuvor war der Amerikaner Kittinger aus 31 Kilometern Höhe abgesprungen. Auch er hatte Probleme mit der Koordination seiner Lage im Fallen. Versuche mit Puppen gingen seinem Sprung voraus. Diese Versuche ergaben, dass eine unkontrollierte Trudel- oder Drehbewegung den Springer vielleicht sogar töten könnte. Kittinger löste das Problem durch Nutzung eines kleinen Stabilisierungsschirmes. Andrejew nicht. Dieser sprang ohne solch ein Stabilisierungsmittel. Daher wurde sein Sprung kurioserweise durch die internationale Luftsportvereinigung FAI als Weltrekordsprung geführt und nicht der von Kittinger. Das tut aber der heldenhaften Leistung Kittingers keinen Abbruch.
Und Dolgow? Der sitzt nach wie vor in seinem Pilotensitz angeschnallt vor der Instrumententafel. Ist dieser Raum auch schon dekomprimiert? Nach dem Konstruktionsprinzip der Volga eigentlich nicht. Die Kapsel ist jetzt um vieles leichter. Andrejew mit seiner ganzen Höhenschutz-Ausrüstung, Druckanzug und Sauerstoffgerät, Fallschirmequipment und Sitz fehlen. Die Luft in Andrejews Bereich ist entwichen. Der Ballon schnellt nach oben. Gleichzeitig hat der schräge Auswurf der Sitzschale zusammen mit Andrejew einen seitlichen Kraftimpuls auf die Gondel gegeben, so dass diese unkontrolliert zu schlingern beginnt. In der fast luftleeren Stratosphäre gibt es für diese Schlingerbewegung keine Dämpfung durch eine Atmosphäre, wie beispielsweise in Bodennähe.
Dolgows Absprunghöhe soll 28.642 Meter betragen haben. Andere Quellen sprechen von 25.600 Metern. Warum nun dieses Durcheinander in den Werteangaben? Zum einen ist der Sprung von Andrejew als Weltrekordsprung erfasst. Damit steht ein offizieller, international anerkannter Wert. Zum anderen ist Dolgow‘s Sprung nicht offiziell benannt, da der Sprung bekanntlich ein Fehlschlag war. Somit gibt es keine offizielle, sichere internationale Quelle, die genau den Wert definiert hat. Damit ist die Möglichkeit gegeben, dass sich hier Fehler bei der Verbreitung der Informationen in den Berichten fortgeschrieben haben.
Aus verschiedenen Quellen ergibt sich eine Differenz von fast 3 Kilometern in den Angaben zu Dolgows Absprunghöhe. Außerdem werden die Werte manchmal mit Andrejews Sprung „vermischt“. Und wozu benötigt man diese Angaben? Die Aufwärtsgeschwindigkeit der Volga-Gondel zum Absprungpunkt in Kombination mit der möglichen Schlingerbewegung vermittelt einen Eindruck, unter welchen extremen Bedingungen der Pilot Dolgow aus der Gondel springen musste. Ein höchst gefährliches Unterfangen. So oder so.
Dolgow bereitet also seinen Absprung vor. Das Szenario sieht vor, dass er sofort den Fallschirm öffnen soll. So ist vermutlich auch die Automatik an seiner Fallschirmausrüstung eingestellt. Es ist von ca. einer halben Stunde Flugzeit bis nach unten auf den Erdboden die Rede. Wenn man sich die Bilder vom Einstieg Dolgows in die Gondel ansieht, erkennt man, wie kompliziert es ist mit den ganzen Ausrüstungsteilen überhaupt durch das unbequeme Einstiegsloch in den Sitz zu gelangen. Nun muss er nach der Dekompression seines Kabinenteiles die Außenluke nach oben öffnen und sich im schweren Druckanzug mit seiner ganzen Überlebensausrüstung irgendwie aus der Golndel befreien. Hinzu kommt der Unterschied zwischen Anzugdruck und Außendruck. Bei einer ruhigen Gondellage ist dieser Vorgang schon eine große Kraftanstrengung. Aber jetzt?
Die Gondel schlingert hin und her. Keine helfende Hand ist da, die eingreifen könnte. Andrejew ist bereits weit weg. Wäre Dolgow in seinem Pilotensitz angeschnallt sitzen geblieben und mit der Volga-Gondel wieder gelandet, vielleicht hätte er überlebt. Doch er versucht auszusteigen. Er ist Soldat und der Befehl ist eindeutig: Führen Sie die Mission durch und Schwierigkeiten sind zu überwinden. Was in manchen pathetischen Reden aus der damaligen Zeit so geschwollen daher kommt, ist hier bitterer Ernst.
Dolgow versucht den Auftrag zu erfüllen und zu springen. Dabei passiert es. Der große Glashelm, der auf den Schultern sitzt und nicht mit dem Kopf verbunden ist, schlägt im Innern der Kabine irgendwo an einer spitzen Stelle an. Spätere Untersuchungen lassen vermuten, dass der Helm gegen einen spitzen Metalldorn, der eine Lasche eines Kabelbinders fixiert, geprallt ist. Die Stelle ist genau gegenüber dem Pilotensitz. Vielleicht ist Dolgow beim Aufstehen nach vorne übergekippt. Jedenfalls ist der Aufprall so heftig, das ein 9 Millimeter starkes Loch fast in der Mitte des Glashelmes oberhalb der Visiers eingeschlagen wird. Sofort entweicht die Luft aus seinem Helm. Dolgow hat keine Chance.
Irgendwie gelingt es ihm noch aus der Gondel auszusteigen oder besser gesagt, zu fallen. Aber der Fallschirm öffnet sich wie vorgesehen sofort und Dolgow hängt zwischen Stratosphärenhimmel und Erde fest. Ewig lange ist sein Abstieg am Fallschirm nach unten. Und Dolgow ist längst tot. 37 Minuten dauert der Abstieg. In einer Höhe von 8.000 Metern kann ihn die Besatzung eines Hubschraubers sehen. Der Körper hängt leblos in den Seilen.
Offiziell war Dolgow nach Einschlagen seines Helmes sofort bewusstlos. Ein schneller Tod also? Andere Quellen führen aber an, das sein Messer gezogen war. Er habe noch versucht, sich nach dem Sprung vom Fallschirm los zu scheiden, um im freien Fall eine rettende Überlebenshöhe zu erreichen um dann den Reservefallschirm zu öffnen. Aber warum hat er sich nicht einfach mittels Schnellverschluss vom Hauptschirm getrennt und die umständliche Messerschneide-Methode gewählt? Oder war das nicht möglich? Vielleicht war der Griff nach dem Messer eine letzte Reflexreaktion. Vielleicht.
Der Autor hat versucht, die mögliche verbleibende Reaktionszeit nachzurechnen. Dabei wurde relativ schnell klar, wie komplex das Thema ist. Sei es der reine physikalische oder der medizinische Sachverhalt. Als er auf der Suche nach Vergleichsdaten auf die bestialischen „Höhenversuche“ mit Menschen im KZ Dachau in der NS-Zeit gestoßen ist, hat er tiefgreifendere Recherchen abgebrochen.
Dolgow hatte vermutlich nur Sekunden, bis er das Bewusstsein verlor.
Ziele, Mutmaßungen und Fehlinterpretationen zum Volga-Experiment
Über die detaillierten Zielsetzungen des Volga-Experimentes lässt sich auch heute nach 55 Jahren nicht alles genau sagen. Nach Jahren der Geheimhaltung sind bestimmt noch nicht alle Fakten auf dem Tisch.
In manchen Berichten ist die Rede davon, dass Dolgow einen Vorläufer des Raumanzuges „Berkut“ in Vorbereitung des Raumfahrtunternehmens „Woschod 2“ testen sollte. In dem Zusammenhang wird auf die ähnlichen Abmessungen der Volga-Gondel und der Woschod-2-Kapsel, bzw. der Wostok verwiesen.
Diese Geschichte wird manchmal auch Besuchern im Museum der Russischen Luftstreitkräfte in Monino erzählt, wo die Volga-Gondel ausgestellt ist. Allerdings fehlt dazu jeder schriftliche Hinweis vor Ort und … sie ist falsch.
Der Druckanzug, den Dolgow trug, war ein modifizierter SI-3M. Dieser Druckanzugtyp lässt sich bis Ende der 50er Jahre zurück verfolgen und wirkt im Jahre 1962 schon etwas antiquiert. Bis zu Leonows berühmten Weltraumspaziergang im Jahre 1965 ist noch ein großer zeitlicher Abstand. Natürlich sind alle eingesetzten Druck- und Raumanzüge vom selben Hersteller Zvezda und die technische Entwicklung baut aufeinander auf. Ein unmittelbarer, direkter Zusammenhang zwischen beiden Unternehmen ist aber nicht zu erkennen.
Dass die Volga-Gondel ähnliche Abmessungen wie die Wostock-Kapsel hat, kann Zufall sein oder Ausdruck einer gewissen Standardisierung.
Zu Andrejew wird behauptet, er sollte bei seinem Sprung eine Variante des Wostok-Schleudersitzes getestet haben. Hierzu ist aber folgendes zu bedenken: Erstens war der Wostok-Schleudersitz bereits seit anderthalb Jahren erfolgreich im Einsatz. Und zweitens ist von „schleudern“ nicht die Rede. Das sitzartige Gebilde rutschte eher aus der Gondel nach unten weg. Andrejew darin sitzend mit den Füßen in Fallrichtung zuerst. Bei Wostok wurde „richtig“ katapultiert mit einer Treibladung und dem Kopf in Flugrichtung. Die eventuelle Gemeinsamkeit besteht nur in der entfernt ähnlichen Bauform.
In eine ganz andere Richtung der möglichen Ziele des Experimentes verweist das russische Magazin „Популярная механика“ in seiner Februar-Ausgabe 2009. Der Versuch habe mit dem Raumfahrtprogramm nichts zu tun gehabt, schreibt das Blatt. Als Auftraggeber des Experimentes seien die Luftstreitkräfte der UdSSR aufgetreten. Im Verlauf der Tests hätten die Militärs vorgesehen, die Rettungsmöglichkeiten aus sehr hochfliegenden Flugzeugen zu testen. In dem Zusammenhang nennt das Blatt das Flugzeug Jak-25RW. Die Jak-25RW war ein Höhenaufklärer. In die Konstruktion dieses Flugzeuges flossen die Erkenntnisse, die man über das amerikanische Spionageflugzeug U-2 gesammelt hatte, ein. Die Indienststellung dieser letzten überarbeiteten Version der Jak-25RW erfolgte 1963. Die maximale Flughöhe soll 20.500 Meter betragen haben.
Unter dieser Betrachtung erscheint das Volga-Experiment als logischer Ablauf. Es sollten zwei unterschiedliche Arten von Rettungssystemen parallel getestet und verglichen werden. Zum einen der Sprung Andrejews. Er hatte einen sogenannten normalen Druckanzug an, mit denen die Piloten zur damaligen Zeit standardmäßig ausgerüstet waren. Er ließ sich aus der Stratosphäre durchfallen bis auf unter 1.000 Meter. Dann wurde sein Fallschirm automatisch ausgelöst. Er vollzog sozusagen einen Schnellabstieg aus der Gefahrenzone. Im Gegensatz dazu Dolgow. Dieser hatte einen schweren Druckanzug, ähnlich eines Kosmonauten an. Da sein Fallschirm sich sofort öffnen sollte, hatte er natürlich einen viel langsameren Weg aus dem gefährlichen Bereich der Stratosphäre hinaus. Dazu hatte er auch entsprechend mehr Ausrüstung angelegt. Allein die Sauerstoffversorgung musste den ganzen Abstieg gesichert sein. Man stelle sich vor, welche Variante die Militärs für die Ausrüstung ihrer Piloten bevorzugen würden. Die schwere Ausrüstung für einen langsamen Rettungssprung oder die leichte Ausrüstung für einen schnellen Sprung. Welche Methode praktikabler war, sollte vielleicht genau mit diesem Experiment geklärt werden.
Für die Raumfahrtentwicklung war eine derartige Grundlagenforschung insofern interessant, um herauszufinden, in wie weit man sich aus einem startenden oder landenden Raumschiff mit Hilfe von Schleudersitzen retten konnte. Realisiert wurden solche Rettungssysteme in den USA bei den Gemini-Raumschiffen. Die Astronauten hatten die Möglichkeit, sich in der Startphase aus der Raumschiffskabine mit dem Schleudersitz hinauszukatapultieren. Ähnliche Überlegungen und Entwicklungen flossen in das Space-Shuttle-Programm der Vereinigten Staaten von Amerika und in die Konstruktion der sowjetischen Raumfähre Buran ein.
Natürlich muss der Unfall Dolgows Auswirkungen auch auf die Entwicklung und das Design von Helmen für die Luft- und Raumfahrt gehabt haben. Zumal in der ehemaligen Sowjetunion, wo sowieso alle diesbezüglichen Konstruktionsfäden in der Entwicklungsabteilung des Herstellerwerkes Zwezda zusammen liefen und laufen.
Das „Goldfischglas-Helm-Design“ wurde nicht weiter verfolgt, obwohl gewisse Vorteile wie eine Rundumsicht auf der Hand lagen. Der Pilot konnte den Kopf innerhalb des Glashelmes drehen. Der Helm selber war aber in seinen Abmessungen sehr groß. Es sollte sich ein Design für Pilotenhelme durchsetzen, bei dem der Helm fest mit dem Kopf verbunden war und somit jede Kopfbewegung mitmachen mußte. Das Helmvisier in der Gesichtsfront war zu öffnen. Dieser Helm der Typenreihe GSh-6 dominierte in den Folgejahren und löste Ende der 60er Jahre den GSh-4-Helm, den Andrejew bei einem Sprung getragen hatte, völlig ab.
Bei den später eingesetzten Helmen für den EVA-Raumanzug „Berkut“ für die Woschod-2-Mission gab es viele Ähnlichkeiten zum GSh-6. Sei es der Schließmechanismus zwischen Helm und Raumanzug oder das innen-liegende, von außen per Hebel herunter klappbare Sonnenschutzvisier. Die Amerikaner nutzten mit ihren Apollo-Raumanzügen einen Glashelm ala „Goldfischglas“. Dieser machte beim Start des Raumschiffes auch Sinn, lag er doch ruhig auf dem Sitz und der Astronaut hatte eine gute Rundumsicht auf die Instrumente. Bei den Einsätzen auf dem Mond wurde eine separate Schutzummantelung verwendet, ein Überhelm um das Helmglas herum, damit kein Unglück ähnlich dem von Dolgow passieren konnte. Ob die Amerikaner Details von Dolgows Unfall kannten, ist nicht bekannt.
Schlussakord – Das offizielle Ende eines Helden
Wie nun mit dem Ergebnis des Volga-Experimentes umgehen? Andrejew lebt, aber Dolgow ist tot. Und dieser ist landesweit als berühmter Fallschirmspringer bekannt. Was tun? Einen Sieg oder eine Niederlage verkünden? Oder alles totschweigen? Man entschließt sich vorerst nicht über die großartige Leistung in der Stratosphäre zu berichten. Trotzdem erscheint am 3. November 1962, also relativ zeitnah, die Meldung von Dolgows Tod.
Die Armeezeitung Krasnaja Zwezda berichtet auf der letzten Seite in einer kurzen Meldung über den „in Ausübung seiner Pflicht ums Leben gekommenen“ Fallschirmspringer Dolgow. Die kurze Meldung enthält knappe Angaben zum Lebenslauf und auch einen Hinweis auf die Beteiligung am Test der Wostok-Schleudersitze. Der Stratosphärensprung wird nicht erwähnt. Diese Meldung greift das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL auf. Hätte DER SPIEGEL noch ein paar Tage länger gewartet und die sowjetische Presse aufmerksam gelesen, dann hätte er den wahren Hintergrund erfahren.
Da Dolgow in der sowjetischen Öffentlichkeit und in Fachkreisen bekannt ist, wirft die Meldung der Krasnaja Zwezda natürlich viele bohrende Fragen auf. Man entschließt sich, die Karten teilweise offen zu legen.
Am 14. November 1962 legt die Armeezeitung Krasnaja Zwezda noch einmal nach. In einem fast halbseitigen großen Artikel wird von dem Sprung aus 25 Kilometern Höhe berichtet. Zwei große Bilder sind zu sehen: Von Andrejew und von Dolgow. Am 16. November erscheint ein großer Artikel in der Tageszeitung Isvestia und am 19. November in der Prawda.
Allen Beiträgen sind folgende Dinge gemeinsam. Sie berichten über den erfolgreichen Sprung Andrejews. Über die heroische Leistung des Sprunges aus der Stratosphäre. Und sie berichten darüber, dass Dolgow beim Sprungversuch tödlich verunglückt ist. Über Details des Unfalls wird aber nichts berichtet. Es wären unglückliche Umstände gewesen. Dafür werden Dolgows Verdienste um das Vaterland ausführlich gewürdigt. Ähnlich, wie beim späteren Unfall von Gagarin wird die Tatsache des Unglückes nicht bestritten, die konkreten Ursachen bleiben aber geheim und im Dunkeln. Der Nährboden für Mutmaßungen, Spekulationen, Gerüchte und Legenden ist bereitet…
Am 13. Dezember 1962 erscheint in allen wichtigen Zeitungen der Sowjetunion die Meldung: Auf Beschluss des Obersten Sowjets vom 12. Dezember 1962 werden Major Andrejew und Oberst Dolgow mit dem Orden eines Helden der Sowjetunion ausgezeichnet, dem goldenen Stern. Die hohe Auszeichnung bildet den Schlusspunkt unter das Leben des mutigen Fallschirmspringers Dolgow.
Dolgow wird auf dem Soldatenfriedhof unweit der Station „Tschkalowski“ in der Nähe des Sternenstädtchens, östlich von Moskau beigesetzt. Vergessen wird er in seiner Heimat aber nicht. Am 21. März 2012 wird er in der Stadt Prensa, in seiner Heimatgegend, eine Ehrentafel zu seinem Gedenken enthüllt.
Epilog – 50 Jahre danach – Dolgows Erben
Das Schicksal hätte keinen besseren Zeitpunkt finden können. Fast genau fünfzig Jahre nach dem tödlichen Sprung von Dolgow ist wieder ein Fallschirmsprung aus der Stratosphäre erfolgt. Am 14. Oktober 2012 haben viele luftfahrt- und sportbegeisterte Menschen in Deutschland gebannt vor dem Fernseher gesessen und den Rekordsprung des Österreichers Felix Baumgartner live miterlebt. Absprunghöhe: 39 Kilometer Höhe!
Baumgartner hatte für seine sportliche Höchstleistung nicht nur kräftige Sponsoren, allen voran ein Hersteller eines „Flügel verleihenden“ Energiedrinks. Unterstützung erfuhr Baumgartner auch von einem Veteran und Urgestein der US-Amerikanischen Testpilotenriege. Joseph (Joe) Kittinger sprang am 16. August 1960 aus einer offenen Ballongondel aus einer Höhe von 31.332 Meter.
In den Tagen vor dem Beginn der bemannten Weltraumfahrt dienten Kittingers Stratosphärensprünge der Grundlagenforschung. Man wollte wissen, wie sich die kosmische Strahlung auf den Menschen auswirkt und ob ein Mensch überhaupt in der Lage ist, aus der oberen Stratosphäre mit dem Fallschirm „halbwegs gesund“, oder sagen wir lieber „halbwegs lebend“ zum Erdboden zurück zu kommen. Kittinger bewies: Überleben ist möglich, trotz Riss im Handschuh und starken Schwellungen.
Und was ist mit Baumgartners Sprung über 50 Jahre danach? Es hat sich viel verändert. Die supermoderne Sprungausrüstung ist mit der von Kittinger, Andrejew und Dolgow nicht im geringsten zu vergleichen. Die Bodenanlagen und Ausrüstungen erinnern an Cap Canavel. Modernste Technik allerorts.
Aber die Gesetze der Physik sind immer noch die Selben. Auch Baumgartner gerät bei seinem Sprung in das gefährliche trudeln wie Andrejew. Die Gefahrensituation für Baumgartner wird in der folgenden Berichterstattung gerne ausgelassen – in Videoaufzeichnungen des live gezeigten Sprungs fehlen die entsprechenden Sequenzen oft.
Baumgartners Sprung ist in erster Linie eine sportliche Höchstleistung. Hinweise auf wissenschaftliche und technische Aspekte der Angelegenheit wirken eher wie ein Alibi. Ein österreichischer Karikaturist hat es auf den Punkt gebracht, in dem er Baumgartner in einer Karikatur vor dem Absprung sagen lässt: „Ein großer Schritt für Redbull und für mich, ein kleiner für die Menschheit….“
Ich glaube, man könnte diesen Sprung auch als Verbeugung vor den vielen bekannten und unbekannten Testpiloten und Testingenieuren sehen, die außerhalb des Rampenlichtes nicht nur ihre Gesundheit sondern auch ihr Leben für die Forschung einsetzten. Mögen sie Andrejew, Dolgow, Nikitin oder Kittinger heißen. Oder seien sie für uns, wie so oft, namenlos. Jedenfalls möchte ich das so sehen.
Ergänzendes Filmaterial
Als ergänzendes Filmaterial sind folgende Dokumentarfilme zu empfehlen:
DVD „Die ersten Raumfahrer – Mit Schallgeschwindigkeit zur Erde“ – Eine Dokumentation über Kittingers Stratosphären-Sprung. Die DVD ist in Deutschland in Deutsch erhältlich.
DVD „Космические лоцманы“ (Kosmische Wegbereiter) in Russisch. Es handelt sich um eine sehr ausführliche Dokumentation über die Tätigkeit der Testingenieure/Testpiloten Gridunow, Ponomarenkow und Manazakanjan im Rahmen des sowjetischen Raumflugprogrammes.
Lange, bevor die Kosmonauten zu ihren Raumflügen aufbrachen, hatten diese mutigen Männer die Raumanzüge und Ausrüstungsteile selber praxisnah erprobt. Das alles geschah im geheimen ohne den Blick der Öffentlichkeit. Unbekannte Helden, die erst jetzt darüber berichten dürfen.Leider ist die DVD nicht in Deutschland erhältlich.
Zum Schluß: Der Autor in eigener Sache …
Als ich anfing, mich mit Pjotr Iwanowitsch Dolgow zu beschäftigen, kannte ich nur den Namen und die Behauptung, er wäre vor Gagarin angeblich im Weltraum gewesen. Inzwischen sind Unmengen von Informationen zusammen getragen, die teilweise auch widersprüchlich, unwahrscheinlich, und manchmal schlichtweg falsch sind. Auch herrscht bei den Zahlenangaben in den unterschiedlichen Quellen ein großes Durcheinander. Ich war bemüht, nach bestem Wissen im Rahmen meiner Möglichkeiten hier etwas Ordnung hinein zu bringen. Noch ist nicht alles vollständig erforscht und erzählt.
Ladeburg, im Oktober 2017
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