Mehr als nur eine Kopie – Ein Interview mit Harro Zimmer

Ein Gespräch über die Gegenwart und Zukunft der chinesischen Raumfahrt.

Ein Beitrag von Michael Stein und Felix Korsch.

Harro Zimmer ist ein bekannter Raumfahrtexperte und Sachbuchautor. Im Rahmen eines Vortrages zum Stand der chinesischen Raumfahrt in der Wilhelm-Förster-Sternwarte in Berlin am 15. Oktober – dem Tag des Starts von Shenzhou 5 – sprach er mit Raumfahrer.net-Redakteur Michael Stein über die Bedeutung des aktuellen Vorstoßes und die Perspektiven der dritten Weltraummacht.

Der Raumfahrtexperte und Buchautor Harro Zimmer.
(Foto: Marina Goldammer)

Raumfahrer.net: Herr Zimmer, während wir uns hier unterhalten umkreist der erste chinesische Taikonaut seit 16 Stunden die Erde – 42 Jahre nach dem ersten bemannten Raumflug des russischen Kosmonauten Juri Gagarin. Macht dieser Schritt, diese scheinbare Wiederholung früherer Raumfahrtmissionen, überhaupt Sinn?

Harro Zimmer: Ich glaube schon, denn mit diesem Flug zieht auch eine technische Innovation in die bemannte Raumfahrt ein, denn was von weitem so aussieht, als wenn es nur eine Duplizierung der russischen Technik ist, ist ja in Wirklichkeit mehr. So fliegt ja zum Beispiel mit diesem Unternehmen das Orbitalmodul, das sehr viel größer ist als das, was wir bei Sojus gesehen haben, das jetzt nach Ende des Fluges, wenn der Taikonaut heute Nacht zur Erde zurückkehrt, bleibt dieses Modul im Orbit. Nach unseren Erfahrungen etwa drei bis vier Monate. Es ist mit autonomen Experimenten vollgestopft und, wenn sie so wollen, es klingt vielleicht ein wenig übertrieben, es ist so eine Art Mini-Raumstation, die gleichzeitig mit diesem bemannten Flug in den Orbit gelangt.

RN: Welche Motive vermuten Sie hinter dem chinesischen Raumfahrtprogramm? Ist das Programm, oder vielleicht auch nur dieser Flug, in erster Linie eine Frage des Prestiges oder sehen sie auch wissenschaftliche Ziele, die damit verfolgt werden sollen?

HZ: Es ist ja sehr interessant, wenn man das chinesische Raumfahrtprogramm seit 1970 betrachtet, dass der rein militärische Aspekt nur eine absolut untergeordnete Rolle spielte. Es ist denkbar, dass mit der Shenzhou-Technik versucht wird, auch diesen Aspekt langfristig in die eigene Raumfahrt einzubringen. Denn wie gesagt, es ist eine interessante Plattform, die man auch für Aufklärung und ähnliche Dinge verwenden kann. Das könnte ein Motiv sein. Sicherlich ist es auch eine Frage des Prestiges, aber ich bin immer und nach wie vor der Meinung, dass das ein ganz logischer Schritt ist. Die Chinesen haben doch Stufe für Stufe alles das aufgebaut, was Amerikaner und Russen vorgelegt haben. Und da ist doch tatsächlich die bemannte Raumfahrt, wenn ich so sagen darf, das letzte Sahnehäubchen, was da fehlt. Natürlich, man redet immer wieder davon, dass hätte 2,3 Milliarden Euro gekostet, dieses Projekt – und hätte man das Geld sinnvoller einsetzen können? Aber genau betrachtet ist das eine gute Investition. Ein erheblicher Teil dieses Geldes ist in die Entwicklung der leistungsfähigen Trägerrakete geflossen. Es ist eine große technische Infrastruktur, sowohl im Raum Peking als auch in Jiuquan entstanden. Ich glaube schon, dass das tatsächlich mehr als ein Prestige ist, aber sicherlich werden die Chinesen es benutzen, um die Raumfahrt nicht nur dem Volke näher zu bringen, sondern auch als Ausweis, dass sie wirklich eine echte Weltmacht sind.

RN: Dann denken Sie, wenn ich ihre Worte richtig interpretiere, nicht, dass diese Geheimhaltung, die im Vorfeld betrieben worden war und die ja relativ extrem gewesen ist – man wusste ja beispielsweise wirklich erst wenige Tage vorher welcher Astronaut oder Taikonaut es werden würde -, dass diese in unseren Augen übertriebene Geheimhaltung einen militärischen Hintergrund hat, sondern anderweitig begründet ist?

HZ: Ich glaube nicht, dass das einen militärischen Hintergrund hat. Wissen Sie, es ist ganz einfach die Fortsetzung jener Tradition, die wir in der Sowjetunion und in Russland erlebt haben. Das ganze System liegt in den Händen des Militärs. Bei den Russen ja übrigens die ganzen Startabläufe bis heute auch noch, es sind ja dort auch die strategischen Raketenstreitkräfte, die für alle Flüge verantwortlich sind. Und ich glaube einfach aus dem Wachsen aus dem Militärapparat heraus hat man sich diese Geheimhaltung zugelegt. Wenn Sie ganz genau hingucken, ist da die Mauer des Schweigens gar nicht so dicht gewesen. Sehen Sie, mein Vortrag findet heute genau am Tag des Starts statt. Wir haben diesen Termin vor gut sechs Wochen geplant und bereits vor sechs Wochen lag mir eine Information aus Peking vor, dass der 15., 9 Uhr Ortszeit Beijing, der festgesetzte Starttermin ist. Keiner konnte natürlich garantieren, dass er es ist. Wetter und ähnliches mag eine Rolle gespielt haben. Aber selektiv sind doch eine ganze Menge von Informationen durchgedrungen.

RN: Glauben Sie denn, dass dieser erste bemannte Raumflug Chinas so etwas ähnliches wie einen neuerlichen Wettlauf ins All begründen wird? Also nicht unbedingt unter militärischer Flagge, sondern vielleicht auch – was ja wünschenswert wäre – einen friedlichen Wettlauf ins All?

HZ: Das glaube ich ohnehin, dass das passieren wird. Es ist ja sowieso im Augenblick ein gewisser Stillstand zu verzeichnen. Wir wissen, dass die amerikanische bemannte Raumfahrt bis Herbst nächsten Jahres auf Eis liegen wird, dass von Seiten der Russen eigentlich nur Versorgungsflüge oder Transportflüge zur Internationalen Raumstation auf der Agenda stehen, während die Chinesen, glaube ich, im nächsten Jahr einiges vorlegen werden. Im Frühjahr erwarte ich den Start einer Shenzhou-Mission mit mindestens zwei Taikonauten an Bord und gleich über eine längere Flugzeit. Und wenn man sich Shenzhou genauer ansieht, kann man so etwas wie die Möglichkeit eines Kopplungsstutzens erkennen oder die schnelle Anpassung an eine Kopplung. Und wir wissen, dass in Beijing im Entwicklungszentrum ein Modul einer kleinen Raumstation steht. Vielleicht erleben wir im nächsten Jahr doch tatsächlich einen interessanten Impuls. Ob der zu einem Wettlauf ausarten wird, wage ich allerdings zu bezweifeln. Dazu sind die beiden anderen Großen, im Augenblick, jeder auf seine Weise doch etwas eingeschränkt.

Raumfahrer.net-Redakteur Michael Stein im Gespräch mit Harro Zimmer.
(Foto: Marina Goldammer)
Raumfahrer.net-Redakteur Michael Stein im Gespräch mit Harro Zimmer.
(Foto: Marina Goldammer)

RN: Um daran anzuknüpfen, die weitere Entwicklung des chinesischen Raumfahrtprogrammes über das nächste Jahr hinaus: Was vermuten Sie, oder was wissen Sie vielleicht auch, wie wird es weitergehen in China?

HZ: Also, sicher werden wir mit dieser Konzeption, so, wie sie gegenwärtig gerade fliegt, einen erstaunlichen Langzeitflug sehen. Man kann sich vorstellen, dass die Ressourcen, die an Bord sind, ausreichen, um zwei Taikonauten für sogar ein oder zwei Monate in dieser Station zu beherbergen. Ich glaube, dass die Chinesen diesem Aspekt besonders ausreizen werden. Und, wie gesagt, mit Sicherheit kommt so etwas wie eine Raumstation, allerdings ist das, wenn man die Konzepte sich genauer ansieht, auch die Hardware, doch so etwas wie ein Labormodul, was dort angedockt werden wird. Ein Labormodul, dass uns ein wenig an Spacelab in der äußeren Konfiguration und wahrscheinlich auch im inneren Aufbau erinnert. Das wird mit Sicherheit die Zukunft sein. Zum anderen aber werden wir weitere Fortschritte hinsichtlich eines unbemannten Mondfluges sehen. Wir haben gerade, auf der letzten Versammlung der Internationalen Astronautischen Union, dieses Jahr in Sydney – das ist ja immerhin die renommierte Versammlung der bedeutenden Astronomen der Welt – erlebt, dass zwei chinesische Wissenschaftler sehr detailliert über die instrumentelle Ausstattung dieses ersten Mondfluges berichtet haben. Weniger über das Äußere und über die Abläufe, aber es ist sicher, dass wir in den nächsten drei Jahren eine unbemannte Mission der Chinesen in Richtung Mond sehen werden.

RN: Weil Sie gerade das Thema Raumstationen angesprochen haben: Halten Sie es für denkbar, dass in absehbarer Zukunft – in den nächsten Jahren – auch eine Kooperation oder Beteiligung Chinas an der Internationalen Raumstation folgen wird?

HZ: Das ist ja eine interessante und höchst spannende Frage! Die Amerikaner, die ja gewisse Probleme mit dem Austausch von Hardware mit China haben denken, oder hoffen zum Teil im Stillen, dass die Chinesen mit in das Boot geholt werden können, zum Beispiel um Kosten zu senken, um die Station attraktiver zu machen, um sie besser zu nutzen. Andererseits allerdings hört man aus russischen Kreisen, die doch ein wenig mehr Einblick in die chinesische Gedankenwelt und Planung haben, dass die Chinesen das nicht tun werden, dass sie sich nicht sozusagen andocken an diese Station, sondern ein Konzept verfolgen wollen, das ähnlich dem Konzept des Aufbaus der Mir aussehen könnte. Das heißt also die Kopplung von verschiedenen Modulen. Was aber nicht heißt, dass China sich nicht weiter dem Westen öffnet. Wir haben ja gehört, dass möglicherweise chinesische Experimente an Bord der Internationalen Raumstation fliegen werden. Aber ich glaube, mit jedem dieser Schritte werden die Chinesen weltbewusster und auch offener und vielleicht kommt es ja dann in irgendeiner Form doch zu einer etwas engeren Kooperation.

RN: Sehen Sie denn in diesem Zusammenhang die Beteiligung Chinas am europäischen Navigationssystem Galileo eher als Ausdruck einer Abwehrhaltung gegenüber den Amerikanern, als Schritt in die Unabhängigkeit von dem GPS-System? Oder meinen Sie, dass sie in erster Linie auch unter der Flagge der Zusammenarbeit, der internationalen Kooperation von chinesischer Seite aus angestrebt wird?

HZ: Die Chinesen haben ja angefangen, ein eigenen Navigationssatellitensystem aufzubauen, das System Beidu. Zwei solcher experimenteller Satelliten sind ja bereits gestartet worden. Aber ich glaube kaum, dass die Chinesen sich auf ein komplettes, großes System konzentrieren wollen. Die Chinesen vermeiden ja eigentlich soweit es geht Doppelarbeit und das, was ihnen möglicherweise mit Galileo geboten wird, wird sie veranlassen, sich enger an dieses Projekt zu hängen. Sicherlich ist da auch eine gewisse Abwehrstellung gegenüber den Vereinigten Staaten zu erkennen, die ja eben sehr leicht dieses System in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigen können. Ich glaube schon, dass in dieser Hinsicht China nach Europa gehen wird uns es hat ja auch gute Konditionen zu bieten. Es ist denkbar, so hört man jedenfalls, dass die Chinesen Transportkapazität für die Galileo-Mission zur Verfügung stellen könnten. Immerhin sind sie ja heute in der Lage, doch unbemannte Nutzlasten von fast neun Tonnen in den niederen Erdorbit, ungefähr so sechs Tonnen in die geostationäre Bahn zu bringen und da sie von ihren Preisen her noch immer sehr moderat sind, könnte ich mir vorstellen, dass ein Austausch von Hardware zwar nicht direkt stattfindet, dass die Chinesen aber ihren Einstand mit der Zurverfügungstellung von Trägerraketen geben werden.

RN: Eine Frage zum Abschluss: Wenn sie der chinesischen Regierung Ratschläge für die weitere Gestaltung des Raumfahrtprogramms in China geben könnten, was wäre ihr erster, ihr wichtigster Ratschlag und welche Fehler sollte Peking unbedingt vermeiden?

HZ: Vermeiden sollte Peking, fangen wir mal sozusagen von hinten an, jede Art von Doppelarbeit. Das hat man ja auch bisher sehr erfolgreich getan. Sie sehen auch, dass das reine wissenschaftliche Programm ja etwas in den Hintergrund getreten ist. Die Chinesen haben sich sehr auf Anwendung konzentriert und fokussiert und ich würde sagen, so soll das auch bleiben. Sie müssen aber, um ihren wissenschaftlichen Nachwuchs heranzuführen an den gegenwärtigen Weltstandard, tatsächlich das eine oder andere wissenschaftliche Programm auflegen. Es ist ja zum Beispiel geplant, ein kleines Weltraumteleskop à la Hubble demnächst in den Orbit zu bringen mit einem Meter Durchmesser. Also man sollte die Wissenschaft nicht vernachlässigen, aber eben nicht nur Wissenschaft der Wissenschaft halber betreiben. Ja, welcher gute Rat? Ich würde sagen, der gute Rat ist doch der, weiterhin intensiver auf den kommerziellen Markt vorzudringen. Man ist ja jetzt mit Hilfe dieser Trägerrakete, die Shenzhou gestartet hat, in der Lage, auch in den oberen Nutzlastbereich vorzudringen. Und China sollte sich weiter darauf konzentrieren, auch da haben wir erste Ansätze gesehen, anderen Schwellenländern beim Start in den Weltraum zu helfen durch Verfügungstellung von Mitflugkapazität, aber auch in Form von Beratung, denn die Chinesen wissen eigentlich genau, wo diesen Nationen der Schuh drückt.

RN: Herr Zimmer, vielen Dank für dieses Interview!

Nach oben scrollen