Massereiche Scheibengalaxien: Schnell groß

Sie werden so schnell groß: Massereiche Scheibengalaxien entstanden außergewöhnlich früh in der kosmischen Geschichte. Eine Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Astronomie.

Quelle: Max-Planck-Institut für Astronomie.

Frühere Modelle der kosmischen Evolution gingen davon aus, dass Scheibengalaxien wie unsere Milchstraße ihre große Masse relativ spät in der 13,8 Milliarden Jahre langen Geschichte unseres Kosmos erreichten. Doch jetzt haben Astronomen unter der Leitung von Marcel Neeleman vom MPIA mit Hilfe des ALMA-Observatoriums eine Scheibengalaxie gefunden, die bereits vor rund 12 Milliarden Jahre eine große Masse erreicht hatte. Das unterstützt neuere Computersimulationen, die auf die Rolle eines schnellen, „kalten“ Modus der Galaxienentstehung hingewiesen hatten. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Künstlerische Darstellung der Wolfe-Scheibe, einer massereichen rotierenden Scheibengalaxie im frühen, staubigen Universum. Die Galaxie wurde ursprünglich entdeckt, als ALMA das Licht eines weiter entfernten Quasars (oben links) untersuchte.
(Bild: NRAO/AUI/NSF, S. Dagnello)
Künstlerische Darstellung der Wolfe-Scheibe, einer massereichen rotierenden Scheibengalaxie im frühen, staubigen Universum. Die Galaxie wurde ursprünglich entdeckt, als ALMA das Licht eines weiter entfernten Quasars (oben links) untersuchte.
(Bild: NRAO/AUI/NSF, S. Dagnello)

Kurz nach dem Urknall war das Universum gleichförmig und strukturlos – eine Suppe aus Elementarteilchen. Wie sich in den darauffolgenden 13,8 Milliarden Jahren die reiche Vielfalt an Strukturen in unserem Kosmos gebildet hat, mit einer großen Vielzahl von Galaxien und ihren unzähligen Sternen, ist eine der grundlegenden Fragen der modernen Kosmologie. Nun hat eine Entdeckung einer Gruppe unter der Leitung von Marcel Neeleman (Max-Planck-Institut für Astronomie) ein wichtiges neues Puzzlestück gefunden: Die Astronomen entdeckten eine Scheibengalaxie ähnlich unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße, die bereits 1,5 Milliarden Jahre nach dem Urknall die beträchtliche Masse von 70 Milliarden Sonnenmassen erreicht hatte. Damals war das Universum lediglich 10 % so alt wie heute.

Die Entdeckung liefert ein wichtiges Argument für eine aktuelle Diskussion über die Entstehung von Galaxien, die zwei grundlegend verschiedene Mechanismen berücksichtigt hatte: ein „Hot Mode“-Szenario, bei dem heißes Gas lange abkühlen muss, um letztlich eine Scheibe zu bilden, und das neuere „Cold Mode Accretion“-Szenario, bei dem kühles Gas auf eine neu entstandene Galaxie geleitet wird, so dass deutlich schneller eine Scheibe entstehen kann. Nur 1,5 Milliarden Jahre nacf dem Urknall eine ausgeprägte, massereiche Scheibe zu finden, zeigt, dass der kalte Entstehungsmodus eine wichtige Rolle bei der Galaxienentstehung spielt. In dieselbe Richtung hatten vorher bereits Computersimulationen wie die Auriga- und die TNG50-Simulation gewiesen.

Die Entstehung der kosmischen Vielfalt
Unseren modernen kosmologischen Modellen zufolge begann das für uns beobachtbare Universum vor 13,8 Milliarden Jahren mit der heißen, dichten Urknallphase, als ein nahezu perfekt homogenes Plasma aus Elektronen und Protonen. Selbst nachdem sich dieses Plasma soweit abgekühlt hatte, dass sich Atome bilden konnten, hatte es überall so gut wie die gleiche Dichte. Eine zentrale Aufgabe der Astrophysik ist es, zu erklären, wie aus diesem weitgehend strukturlosen Anfang der vielfältige Kosmos entstand, den wir heute um uns herum sehen, mit seinen Galaxien, Sternen und Planeten.

Den besten verfügbaren Simulationen zufolge besitzt die heutige großräumige Struktur des Weltalls als „Rückgrat“ ein Netzwerk aus so genannter dunkler Materie, die Licht per Definition weder aussendet noch absorbiert und daher unsichtbar bleibt. Winzige Dichteschwankungen der dunklen Materie kurz nach dem Urknall prägen sich über Milliarden von Jahren hinweg immer stärker aus – wo bereits etwas mehr dunkle Materie vorhanden ist, ist die Gravitationsanziehung etwas stärker, so dass zusätzliche dunkle Materie angezogen wird. Das Ergebnis ist ein gigantisches kosmisches Netzwerk aus Fäden und Knoten (mit größerer Dichte), die riesige Hohlräume (nämlich Bereiche mit geringerer Dichte) umgeben.

Der Masse nach macht dunkle Materie rund 85 % der gesamten Materie im Universum aus. Auf Atome wie jene, aus denen Sterne, Planeten, aber beispielsweise auch unsere eigenen Körper bestehen, entfallen dagegen nur 15 % der gesamten Materie. Gemessen an der Masse ist das Netzwerk der dunklen Materie daher bei weitem die wichtigste großräumige Struktur in unserem Universum. Aber als menschliche Wesen interessieren wir uns natürlich besonders für den Stoff, aus dem wir selbst und unsere Umwelt bestehen – und für die Astronomen ist diese gewöhnliche Materie ja auch das, was mit Teleskopen und astronomischen Instrumenten beobachtet werden kann.

Die Entstehung von Galaxien und Sternen
Galaxien bilden sich innerhalb von Verklumpungen des kosmischen Netzwerks aus dunkler Materie, so genannten Halos, die eine deutlich höhere Dichte als die umgebende Materie aufweisen. Durch ihre Gravitation ziehen diese Konzentrationen dunkler Materie auch gewöhnliche Materie an. Aber damit diese gewöhnliche Materie leuchtende Sterne bildet, und dann auch über große Entfernungen sichtbar wird, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Sterne entstehen, wenn kleinere Regionen innerhalb einer Wolke aus molekularem Gas kollabieren und sich erwärmen. Damit das überhaupt geschehen kann, und damit das Gas überhaupt Moleküle bilden kann, muss das Gas ausreichend kühl sein – direkt vor der Sternentstehung nur rund 10 Grad Celsius über dem absoluten Nullpunkt, also 10 Kelvin.

Unter diesen Bedingungen ist es alles andere als einfach, dass große Galaxien wie unsere eigene Milchstraße entstehen, mit einer massereichen Scheibe aus kaltem Gas, in der sich neue Sterne bilden. Eine wichtige Art und Weise, wie Galaxien wachsen, besteht nämlich darin, dass sie mit anderen Galaxien kollidieren und verschmelzen. „Die meisten Galaxien, die wir früh im Universum finden, sehen ziemlich mitgenommen aus, weil bereits eine Reihe von heftigen Verschmelzungsereignissen hinter sich haben“, sagt Neeleman. „Die Aufheizung im Rahmen solcher Verschmelzungsereignisse erschwert die Entstehung geordnet rotierender Scheiben, wie wir sie in unserem heutigen Universum beobachten.“ Wenn bei einer Galaxienverschmelzung Gaswolken zusammenstoßen, bilden sich so genannte Schockfronten, und das Gas wird unweigerlich erhitzt. Anschließend dauert es typischerweise einige Milliarden Jahre, bis das Gas soweit abgekühlt ist, dass sich eine geordnete Gasscheibe bilden kann.

Entstehung großer Scheibengalaxien: eine kühle Alternative
Moderne Simulationen der kosmischen Strukturbildung nutzen Supercomputer, um dunkle Materie und Gas über Milliarden von Jahren nach dem Urknall zu verfolgen. Im Wesentlichen erschaffen sie dabei auf der Grundlage der bekannten physikalischen Gesetze jeweils ein virtuelles Universum, das es den Wissenschaftlern erlaubt, alle Phasen der kosmischen Evolution nachzuvollziehen.

Zwei neuere Simulationen, die Auriga-Simulation von Galaxien ähnlich unserer Milchstraße sowie, in deutlich größerem Maßstab, die detaillierte TNG50-Simulation, haben die Möglichkeit eines alternativen Entstehungsmodus für Scheibengalaxien aufgezeigt: Dabei strömt kühles Gas in Galaxien ein, folgt dabei den Filamenten des Netzwerks aus dunkler Materie und vermeidet auf diese Weise die Kollisionen, die das Gas aufheizen würden. Diese sogenannte kühle Akkretion ermöglicht die Entstehung massereicher Scheibengalaxien zu viel früheren Zeiten als im Verschmelzungs- und Abkühlungsszenario.

Auf der Suche nach frühen, kühlen Galaxien
Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass der direkteste Weg, die Vorhersage aus den Simulationen zu überprüfen, darin bestehen würde, massereiche Scheibengalaxien im frühen Universum zu finden. Ein solcher Fund wäre mit dem Verschmelzungs-und-Abkühlungs-Szenario nicht vereinbar, aber wäre dem kühlen Entstehungsmodus nach zu erwarten. Das war die Motivation für Marcel Neeleman und seine Kollegen, sich auf die Suche nach frühen Scheibengalaxien zu begeben.

Glücklicherweise sind Astronomen in der Lage, die ferne Vergangenheit zu beobachten. Licht aus fernen Regionen braucht schließlich einige Zeit, um uns zu erreichen. Ist eine weit entfernte Region so weit entfernt, dass ihr Licht 12 Milliarden Jahre benötigt, um uns zu erreichen, dann trägt dasjenige Licht aus der Region, das heute unsere Teleskope erreicht, Informationen darüber, wie diese Region vor 12 Milliarden Jahren aussah, als das Universum nur etwa 10 % seines heutigen Alters hatte.

Das Problem ist, dass entfernte Galaxien schwer zu beobachten sind. Man benötigt nicht nur ein leistungsstarkes Teleskop, sondern man muss auch wissen, wo das gesuchte Objekt zu finden ist. Neelemans Ko-Autor und ehemaliger Doktorvater J. Xavier Prochaska ist ein Experte für eine vielversprechende Suchmethode: Sie nutzt extrem helle, extrem weit entfernte Quasare; das sind Objekte, deren Leuchtkraft auf Materie zurückgeht, welche auf das zentrale Schwarze Loch einer Galaxie fällt. Aus der Art und Weise, wie Gas einen Teil des Lichts des Quasars absorbiert, kann man auf das Vorhandensein und die Eigenschaften von Gas schließen, das sich zwischen dem fernen Quasar und uns befindet.

Die Wolfe-Scheibe, gesehen mit ALMA (rechts - in rot), mit dem VLA (links - in grün) und dem Hubble-Weltraumteleskop (beide Bilder - blau). Im Radiolicht betrachtete ALMA die Bewegungen der Galaxie und maß die Masse des atomaren Gases und des Staubs, während das VLA die Masse des molekularen Gases bestimmte. Im UV-Licht beobachtete das Hubble-Weltraumteleskop massereiche Sterne. Das VLA-Bild wurde mit einer geringeren räumlichen Auflösung als das ALMA-Bild aufgenommen und sieht daher größer und pixeliger aus.
(Bild: ALMA (ESO/NAOJ/NRAO), M. Neeleman; NRAO/AUI/NSF, S. Dagnello; NASA/ESA Hubble)
Die Wolfe-Scheibe, gesehen mit ALMA (rechts – in rot), mit dem VLA (links – in grün) und dem Hubble-Weltraumteleskop (beide Bilder – blau). Im Radiolicht betrachtete ALMA die Bewegungen der Galaxie und maß die Masse des atomaren Gases und des Staubs, während das VLA die Masse des molekularen Gases bestimmte. Im UV-Licht beobachtete das Hubble-Weltraumteleskop massereiche Sterne. Das VLA-Bild wurde mit einer geringeren räumlichen Auflösung als das ALMA-Bild aufgenommen und sieht daher größer und pixeliger aus.
(Bild: ALMA (ESO/NAOJ/NRAO), M. Neeleman; NRAO/AUI/NSF, S. Dagnello; NASA/ESA Hubble)

ALMA findet die Wolfe-Scheibe
Neeleman und seine Kollegen nutzten Beobachtungen mit dem ALMA-Observatorium, einem Array von Dutzenden von Radioteleskopen in Chile, um auf diese Weise 6 frühe Galaxienkandidaten zu identifizieren, die so weit entfernt waren, dass ihr Licht rund 10 Milliarden Jahren unterwegs gewesen war, um uns zu erreichen. In dem dafür nötigen Wellenlängenbereich bietet ALMA unübertroffen hohe Auflösung und unübertroffen hohe Empfindlichkeit. Beide Eigenschaften nutzten die Astronomen aus, um das hellste der Kandidatenobjekte, DLA0817g, genauer zu beobachten. Dabei fanden sie verräterische Wellenlängenverschiebungen, sogenannte Dopplerverschiebungen, die zeigten, dass sie es tatsächlich mit einer großen, stabilen, rotierenden Scheibe zu tun hatten. Weitere Beobachtungen unternahmen die Astronomen mit den VLA-Radioteleskopen. Aus der Kombination der scheinbaren Größe mit Daten zur Rotation der Scheibe erschlossen die Forscher die Masse der Scheibe: 70 Milliarden Sonnenmassen. Die ALMA-Beobachtungen zeigen die Scheibe so, wie sie war, als das Universum gerade einmal 1,5 Milliarden Jahre alt war, rund 10% seines heutigen Alters.

Die Forscher gaben DLA0817g den Namen „Wolfe-Scheibe“, nach dem 2014 verstorbenen Arthur M. Wolfe, dem ehemaligen Doktorvater von drei der vier Autoren der Arbeit, darunter Prochaska und Neeleman. Wolfes langfristiges Forschungsprogramm über die Absorption von Quasarlicht hatte diese und viele andere Entdeckungen überhaupt erst möglich gemacht. Masse und Alter der Wolfe-Scheibe sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass kühle Gas-Zuflüsse tatsächlich eine bedeutende Rolle in der kosmischen Evolution gespielt hat – so, wie es die Simulationen Auriga und TNG50 nahegelegt hatten. Bis wir die Details verstehen, sind allerdings noch weitere Ergebnisse sowohl aus Simulationen als auch aus Beobachtungen erforderlich. „Wir glauben, dass die Wolfe-Scheibe in erster Linie durch die stetige Akkretion von kaltem Gas gewachsen ist“, sagt Prochaska: „Eine der noch offenen Fragen ist jedoch, wie so eine beträchtliche Gasmasse zusammenkommen kann, ohne den relativ stabilen Zustand der rotierenden Scheibe zu stören“.

Wolfe-Scheiben dürften recht häufig sein.
Eine Galaxie wird nur dann durch ihre Absorption von Quasarlicht nachweisbar sein, wenn Beobachter, Galaxie und ferner Quasar zufällig genau auf einer Linie liegen. Solche Ausrichtungen sind bereits für sich genommen selten; wäre die Wolfe-Scheibe nun außerdem noch selbst ein ungewöhnliches, seltenes Objekt, würde dies die Unwahrscheinlichkeit der zufälligen Entdeckung noch einmal erheblich erhöhen. Deutlich wahrscheinlicher ist die Annahme, dass Galaxien wie die Wolfe-Scheibe im frühen Universum vergleichsweise häufig vorkommen.

„Dass wir die Wolfe-Scheibe mit dieser Methode gefunden haben, legt nahe, dass derartige Galaxien im frühen Universum recht häufig sein dürften“, sagte Neeleman. „Als unsere neuesten Beobachtungen mit ALMA überraschenderweise zeigten, dass sie rotiert, zeigte uns das, dass rotierende Scheibengalaxien in dieser frühen Epoche nicht so selten sind, wie wir gedacht hatten, und dass es noch viel mehr von ihnen da draußen geben müsste.“ Auch diese Aussage hoffen die Astronomen überprüfen zu können, indem sie ihre Suche fortsetzen und weitere massereiche Scheibengalaxien im frühen Universum ausfindig machen.

Hintergrundinformationen
Die Ergebnisse werden beschrieben in dem Artikel „A Cold, Massive, Rotating Disk 1.5 Billion Years after the Big Bang“, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Nature. Vor Ablauf der Sperrfrist kann der Artikel von Journalist*innen bei press@nature.com angefordert werden.

Der beteiligte MPIA-Wissenschaftler ist Marcel Neeleman, in Zusammenarbeit mit J. Xavier Prochaska (UCSC und Universität Tokio), Nissim Kanekar (National Centre for Radio Astrophysics, Pune) und Marc Rafelski (Space Telescope Science Institute und Johns Hopkins University).

NRAO-Pressemitteilung (auf englisch)

Das Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA) ist eine internationale astronomische Einrichtung, die gemeinsam von Europa, Nordamerika und Ostasien in Zusammenarbeit mit der Republik Chile getragen wird. Von europäischer Seite aus wird ALMA über die Europäische Südsternwarte (ESO) finanziert, in Nordamerika von der National Science Foundation (NSF) der USA in Zusammenarbeit mit dem kanadischen National Research Council (NRC) und dem taiwanesischen National Science Council (NSC), und in Ostasien von den japanischen National Institutes of Natural Sciences (NINS) in Kooperation mit der Academia Sinica (AS) in Taiwan. Bei Entwicklung, Aufbau und Betrieb ist die ESO federführend für den europäischen Beitrag, das National Radio Astronomy Observatory (NRAO), das seinerseits von Associated Universities, Inc. (AUI) betrieben wird, für den nordamerikanischen Beitrag und das National Astronomical Observatory of Japan (NAOJ) für den ostasiatischen Beitrag. Dem Joint ALMA Observatory (JAO) obliegt die übergreifende Projektleitung für den Aufbau, die Inbetriebnahme und den Beobachtungsbetrieb von ALMA.

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