Gagarin und „Das ungeschriebene Gesetz“

Am 27. März vor genau 50 Jahren kam der erste Raumfahrer der Welt, der Kosmonaut Juri Alexejewitsch Gagarin bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Der Unfallhergang wurde nie abschließend aufgeklärt. Vor zwei Jahren gab es dann mutmaßlich neue Erkenntnisse, die eine Neuaufnahme der Unglücksuntersuchung rechtfertigen könnten. Passiert ist bislang … nichts!

Ein Beitrag von Andreas Weise. Quelle: Recherche.

Es besteht das ungeschriebene Gesetz: Ein Flugunfall ist aufzuklären. Egal, wie lange es dauert. Dabei sind die Ursachen des Unfallereignisses zu ermitteln. Aus den gewonnenen Erkenntnissen sind dann Maßnahmen abzuleiten, damit so ein Flugunfall nie wieder passieren kann.
In der Öffentlichkeit sind vor allem die großen Flugunfälle mit Passagierflugzeugen im Gedächtnis geblieben. So der Absturz eines Urlaubsfliegers der Birgenair 1996. Hier war ein technischer Defekt die Hauptunfallursache. Oder die Explosion einer Boeing 747 der Fluggesellschaft TWA vor New York, ebenfalls 1996. Ein bis dato nicht so beachtetes Phänomen der Gasbildung in halb leeren Flugzeugtanks führte später zur Umkonstruktion des Jumbojets. Beim Absturz eines Air-France-Airbus 2009 mitten über dem Atlantik handelte es sich hauptsächlich um eine Kombination aus technischem Versagen und Pilotenfehler. Neue Trainingsprogramme für Piloten waren die Folge. Manchmal kann die Aufklärung schnell erfolgen. Bei anderen Vorkommnissen wird es noch Jahre dauern, bis man weiß, was wirklich passiert ist. Es ist auch hier notwendig, zweifelsfrei Klarheit über die Ursachen zu schaffen. Ob die Ergebnisse den Beteiligten gefallen oder nicht.

Was für die zivile Luftfahrt gilt, sollte auch in der Militärluftfahrt üblich sein. Freilich, aus Gründen der Geheimhaltung bekommt der normale Bürger nur selten etwas von solchen Ereignissen mit.

Was aber, wenn es sich bei den Unfallopfern um wichtige, bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens handelt? Gar Menschen mit Weltruhm? Wird hier nicht lückenlos aufgeklärt, wird versucht zu vertuschen oder gar tot zu schweigen…dann ist das der beste Nährboden für Verschwörungstheorien aller Art.

A. Weise
MiG15UTI ohne Zusatztanks im Sternenstädtchen 2017
(Bild: A. Weise)

Von der breiten Öffentlichkeit heute leider nicht mehr beachtet, hat sich so ein Fall am 27. März 1968 östlich des bei Moskau gelegenen Militärflugplatzes Tschkalowski ereignet. Die Rede ist vom Tot des Oberst Juri Alexejewitsch Gagarin. Und dieser war ja nicht irgendwer! Dieser war der erste Mensch im Weltraum, war sozialistische Pop-Ikone der aufstrebenden Sowjetunion, war ein Superstar in der weltweiten Öffentlichkeit, ein strahlender Held. Und dieser Mensch, der den Weltraum bezwungen hat, verunglückt bei einem ganz banalen Übungsflug tödlich! Und er saß ja nicht allein im Flugzeug. Mit an Bord: Oberst Serjorgin, der auch ums Leben kam. Zwei Oberste in einer schon betagten, einfachen Übungsmaschine stürzen ab. Der eine ist Kosmonaut, der andere ein erfahrener Militärflieger und Fluglehrer. „Da muss doch etwas oberfaul sein!“ denkt der Leser sofort. Und richtig: Es geistern bis heute die absurdesten Geschichten zu diesem Ereignis herum. Von „Alkohol“ bis „Mord“. Von „Schicksal-Pech“ bis „Pilotenfehler“. Der Phantasieauswüchse der Verschwörungen sind keine Grenzen gesetzt. Und warum? Weil die verantwortlichen Ermittler bis heute keine abschließende Erklärung für den Flugunfall gefunden haben, bzw. finden wollten. Zu groß ist das Potential an emotionalem Sprengstoff, das sich um die Person Gagarin aufgebaut hat. Wer möchte schon zugeben, dass er hier einen Fehler begangen hat? Dabei geht es um das Ansehen höchster Entscheidungsträger und nicht zuletzt um die Ehre der ruhmreichen sowjetischen Luftstreitkräfte.

Aber erinnern wir uns: Ein Flugunfall ist aufzuklären! Und es war ein Unfall. Die Aufklärung ist notwendig, um die Mängel und Fehler zu verstehen, die Piloten und ihr Handeln richtig darzustellen und der Öffentlichkeit und vor allem der Familie Gagarin endlich zu sagen, was mit dem Held und Familienvater wirklich passiert ist.

Noch immer aber herrscht eisiges Schweigen. Keiner möchte in Russland den Teppich der Geschichte hoch heben, um zu sehen, was seiner Zeit darunter gekehrt wurde.

Der Autor dieser Zeilen hatte sich vor zwei Jahren in einem Beitrag hier bereits geäußert. Um den Leser nicht zu langweilen, habe ich versucht, die im Moment vorliegenden wichtigsten Fakten noch einmal zu ordnen. Dabei beziehe ich mich hauptsächlich auf Angaben in Kowalskis Buch „Der unbekannte Gagarin“ und die Vorgängerwerke. Natürlich wird auch Sergejews Text, herausgegeben von Kowalski: „Gagarin – Er könnte noch leben“ berücksichtigt. Es ist davon auszugehen, dass Kowalski alle öffentlich bekannten Fakten zusammen getragen, und dem deutschsprachigen Leser zugänglich gemacht hat. Was ist also passiert?

Die Vorgeschichte:
31. Dezember 1959: Gagarin hatte 265 Flugstunden auf Jak-18 (Übungs-Propellermaschine) und MiG-15bis (Düsenflugzeug) nachgewiesen. Das ist nicht viel. Für einen jungen Piloten, der noch ganz am Anfang seines Fliegerlebens stand, aber bestimmt nichts Außergewöhnliches.

Mit dem Eintritt in den Kosmonauten-Kader braucht und darf Gagarin nicht mehr selber ein Flugzeug steuern. Die Ausbildung sieht das nicht vor. Nach seinem Weltraumflug soll er als Person geschont werden. Wie oft er aktiv zwischen 1961 und 1967 hinter dem Steuerknüppel gesessen hat und in wie weit er selber geflogen ist, das ist nicht bekannt. Es ist aber zu vermuten, dass es nur ganz wenige Flugstunden waren. Nach dem Tode Komarows (Sojus 1) im April 1967 wird für Gagarin absolutes Flugverbot angeordnet.

Erst im November 1967 erhält er die Erlaubnis, wieder allein zu fliegen. Sein Vorgesetzter Kamanin interveniert dagegen. Es kommt zum Streit. Gagarin bleibt hartnäckig. Ein Kompromiss wendet den Eklat ab. Gagarin soll erst seine Diplomarbeit abschließen. Ziel: Frühjahr 1968.

1. März 1968: Gagarin erhält seine Flugerlaubnis zurück. Grund: Er hat sein Diplom als Ingenieur am 17. Februar 1968 erfolgreich verteidigt. Es sind somit über acht Jahre vergangen seit Gagarins Herausnahme aus dem aktiven Flugdienst.

9. März 1968: Gagarin feiert seinen 34. Geburtstag.

12. März 1968: Gagarin geht zur medizinischen Kontrolle und wird für flugtauglich befunden. Hier müsste man stutzen. Gagarin hatte sich im Oktober 1961 eine schwere Schädelverletzung zugezogen. Die Folgen konnte man in seiner linken Augenbraue sehen, die nicht ganz durch entsprechende kosmetische Operationen wieder hergestellt werden konnte. Es gibt Ärzte, die ihm die Flugtauglichkeit, besonders bei hohen G-Kräften, absprechen. Allerdings war Gagarin im aktiven Kosmonauten-Kader und sogar Double von Komarow für den Sojus-1-Flug. Spätestens hier hätte eine Flugunfähigkeit diagnostiziert werden müssen, wenn es die gab. Oder hat man Gagarin bewusst im falschen Glauben gelassen, er sei weltraum- und flugtauglich? Wollte man ihn nicht enttäuschen? Das aber wäre eine Ungeheuerlichkeit, die ich den damaligen Verantwortlichen in dieser Konsequenz nicht zutraue. Fazit für mich: Gagarin war aus damaliger Betrachtungsweise und der vorliegenden Erkenntnisse flugtauglich. Beweise wären die medizinischen Protokolle bzw. Gagarins Krankenakte, wenn sie für eine Untersuchung zugänglich wären.

13. März 1968: Ein Mittwoch. Gagarin unternimmt zwei Lehrflüge im Doppelsitzer mit insgesamt zwei Stunden Länge.

Nach Sergejew (Seite 34) fliegt Gagarin in den nächsten zwei Wochen 18 Übungsflüge auf Mig15UTI. Die Gagarin-Bekannte Marinsky bestätigt die 18 Flüge in ihrem Buch 2011 und nennt zehn Flugstunden bei vier verschiedenen Fluginstrukteuren.

27. März 1968: Auch ein Mittwoch, nur zwei Wochen später… Gagarin soll zwei Alleinflüge auf einem einsitzigen Jagdflugzeug MiG-17 machen. Kurz davor findet der Unglücksflug statt, bei dem er und der zweite Insasse ums Leben kommen. Fluggerät ist die MiG15UTI Nr. 612739 mit der Bordnummer 18.

Es stellt sich folgende Frage: Wie kann man jemanden, der acht Jahre keine Flugpraxis gehabt hat, davor auch nicht viel geflogen ist, innerhalb von nur zwei Wochen für einen Alleinflug fit machen? Ist das nicht eine sehr kurze Zeitspanne? Und es darf ja nichts schief gehen. Es ist ja Gagarin, und dem darf nichts passieren. Wieso also so wenig Zeit? Ich habe versucht, das durch erfahrene Piloten bewerten zu lassen. Auch habe ich in der Literatur einen Wert für eine mögliche Ausbildung auf MiG15UTI gefunden. Das zusammengefasste Ergebnis dieser Bewertungen ist (natürlich subjektiv), dass dieses Zwei-Wochen-Programm bei einem guten Piloten ausreichen könnte.

Laut Marinsky absolviert Gagarin zehn Flugstunden (Woher wußte sie das?). Aber hatte Gagarin überhaupt die Zeit für so ein Intensivtraining? Er hatte auch andere Verpflichtungen. Liest man zu dem fraglichen Zeitraum in Kamanins Tagebüchern, bzw. in Tschertoks Memoiren nach, so erfährt man: Es ging zu dieser Zeit um den Mond, um LK, LOK und die Amerikaner. War also Gagarin nicht richtig vorbereitet auf seinen Alleinflug? Antworten darauf könnte man in den Flugbüchern von Gagarin finden. Wenn diese erhalten sind, findet man die Flugnachweise. Oder man schaut einfach in seinen Terminkalender. Der sollte im Original auf seinem Schreibtisch liegen. Der Schreibtisch ist erst vor einiger Zeit restauriert worden und jetzt Gedenkstätte.

Es gibt Aussagen, dass sich Gagarin voll in die Flugausbildung hineingestürzt habe. Aus dem, was öffentlich bekannt ist, kann man nicht abschließend sagen, ob Gagarin auf seinen Alleinflug ausreichend vorbereitet worden ist. Aber ich verlasse mich da auf die dokumentierten Aussagen der Beteiligten. Daher möchte ich es annehmen.

Nun zum Unglückstag: Im offiziellen Untersuchungsbericht steht, die Maschine habe den Vorschriften entsprochen. Auch die Flugvorbereitung habe den Vorschriften entsprochen. Das kann so nicht stimmen. Schon Prof. Bjelozerkowski hatte in zwei Büchern 1992 und 1997 entsprechende Ungereimtheiten öffentlich gemacht. Diese passen mit den Ermittlungen von Sergejew von 2014 (der Text wurde erst 2016 herausgegeben) genau zusammen. Sergejew beruft sich dabei auf namentlich genannte Zeugen, was ihn glaubwürdig macht. Daraus ergibt sich folgendes Bild der Flugvorbereitung:

Gagarin soll an diesem Tag zwei Flüge mit einer MiG17 allein durchführen. Die MiG17 ist ein einsitziges Jagdflugzeug und dem Schulungsflugzeug MiG15UTI ähnlich. Für den Flugbetrieb ist für den Tag ein entsprechender Flugplan aufgestellt. Dieser sieht vor, wann wer fliegt, womit geflogen wird und wann welche Wetterdaten durch das Wetterflugzeug herein kommen. General Kamanin, Gagarins Vorgesetzter, hat am Vortag General Kusnezow überraschend befohlen, dass Gagarin vor seinen Alleinflügen noch einen letzten Kontrollflug mit einem Fluglehrer machen soll. Dafür wird der Regimentskommandeur Serjorgin verantwortlich gemacht, der Gagarin persönlich prüfen soll. Doch Serjorgin erreicht der Befehl zu spät. Er hat keinen einsatzbereiten Doppelsitzer. Was tun? Die Zeit verrinnt. Das Wetter droht sich zu verschlechtern. Der Flugplan gerät durch den nicht eingeplanten Flug durcheinander. Einem anderen Piloten den Doppelsitzer wegnehmen?

An dieser Stelle muss ich für mich sagen: Serjorgin trifft meiner Meinung nach die Hauptschuld am folgenden Unfall. Er hätte hier an dieser Stelle den Gagarin-Flug absagen müssen. Das ist aber leichter gesagt, als getan. Schließlich haben ihm zwei Generäle einen Befehl erteilt.

A. Weise
Demontierter Zusatztank
(Bild: A. Weise)

Also improvisiert Serjorgin. Es wird die zwölf Jahre alte MiG15UTI mit der Bordnummer 18 aus dem Hanger geholt und in aller Eile zum Start vorbereitet. Die Zeit drängt: Das Wetter! Die besagte Maschine hat einige Besonderheiten, die später in der Unfall-Betrachtung wichtig werden. Sie ist mit zwei Zusatztanks älterer Bauart ausgestattet. Diese sind Tropfenförmig und nicht spitz-konisch, wie eine spätere Version. Diese alte Bauform soll die Aerodynamik bei Kunstflug negativ beeinflussen. Für Gagarins Flugaufgabe also ungeeignet. Eine schnelle Demontage ist aber konstruktiv nicht so einfach. Also lässt man sie einfach an den Tragflächen dran.

Bei Sergejew lesen wir, dass das Kabinendruckventil offen war. Es handelt sich hierbei um ein Verbindungsventil zwischen der Innenkabine und der Außenluft zum Druckausgleich. Wenn das Ventil geöffnet ist, dann ist die Kabine innen nicht hermetisch geschlossen. Es handelt sich bei der Maschine „18“ um eine in der Tschechoslowakei in Lizenz hergestellte MiG15UTI. Das Ventil ist nicht an der Stelle, wo es die Mechaniker vermuten würden. Also wird es übersehen – so Sergejew. Dieser Sachverhalt, sollte er so stimmen, zeugt von einer überstürzten technischen Flugvorbereitung. Sergejew misst dem offenen Ventil keine entscheidende Bedeutung zu. Aber wir kommen später noch einmal darauf zurück.

Zum Zeitpunkt des Unglückstages hatte die MiG bereits mehrere Generalüberholungen auf dem Buckel. Ein absoluter Schrotthaufen, könnte man meinen. Hinzu kommt die Behauptung von Sergejew, der hintere Sitz habe keinen Steuerknüppel besessen. Die Maschine sollte für Trainings-Katapultierungen umgebaut werden. Dafür benennt er entsprechende Zeugen. Unfassbar! So glaubt man im ersten Augenblick.

A. Weise
Steuerknüppel MiG15UTI
(Bild: A. Weise)

Aber auch hier muss man genauer hinsehen. In Sergejews Text in Kapitel 8 wird die Szenerie so beschrieben: „… Nach etwa 20 Minuten hat man die UTI MiG-15 mit der Bordnummer 18 an den Start gezogen. Juri Alexejewitsch (Gagarin) kannte die Maschine, er war mit ihr mehrfach geflogen. …“ Man erinnere sich: Gagarin fliegt erst seit zwei Wochen wieder. Das bedeutet, die „18“ war im aktiven Dienst in den letzten 14 Tagen gewesen. Und zwar nehmen wir an: Vollständig als Schulflugzeug mit beiden (!) Steuerknüppeln. Also muss man den hinteren Steuerknüppel erst kurz vor dem Unglücksflug ausgebaut haben, wenn er überhaupt fehlte. So ein Ausbau kann sehr schnell erfolgen, wie man mir in einer Werkstatt auf dem Flugplatz Cottbus an einem entsprechenden Objekt erklärte. Aber warum nur den Knüppel? Die Maschine sollte als Schleudersitz-Trainer umgebaut werden. Solche Flugzeuge gab es wirklich. Dazu wurde die hintere Kabine umgebaut. Steuerknüppel und das Kabinendach wurden entfernt. Das brauchte man nicht. Der Schleudersitz-Proband saß sozusagen im Freien. Zusätzlich wurde eine aus Rohrprofilen gefertigte Umrandung angebracht. Nun mag so ein Umbau doch etwas Zeit in Anspruch nehmen. Aber Zeitgleich zum Steuerknüppel hätte man wenigstens auch das Kabinendach demontieren können. Warum soll also „nur“ der Knüppel gefehlt haben?

Anmerkung: Es gab auch eine MiG15UTI-Variante, bei welcher der Testschleudersitz in der vorderen Pilotenkanzel angebracht war und der steuernde Pilot hinten saß. Das soll aber hier nicht weiter betrachtet werden.

Und die Maschine war zumindest wenige Tage zuvor einsatzbereit.

Zurück zum Flug. Serjorgin hat den Befehl, Gagarin zu überprüfen. Dazu braucht er ihn „nur“ zu beobachten. Gagarin soll an dem Tag ohnehin allein fliegen. Also warum nicht mit einem Passagier? Ob nun mit oder ohne Steuerknüppel: Serjorgin setzt sich in die Kabine hinter Gagarin und man fliegt mit Verspätung los. Inzwischen hat sich die Wettersituation geändert. Die Wolkenschichten haben sich in der Höhe nach unten verschoben. Doch das erfahren die beiden nicht mehr. Die ungefähre Wettersituation im Einsatzgebiet ist: Obere Wolkendecke: 4.500 bis 5.500 Meter, untere Wolkendecke 500 bis 1.500 Meter. Gagarin operiert später bei 4.200 Meter, also genau dazwischen.

Sieben Minuten nach dem Start ist man in der Flugzone angekommen und fliegt das vorgesehene Programm ab. Zumindest sieht es so aus. Die Maschine fliegt einen Vollkreis nach links und dann einen Vollkreis nach rechts. Die Flugbahn sieht aus wie eine liegende Acht. Es sind etwas mehr als vier Minuten vergangen. Gagarin meldet, dass die Aufgabe erfüllt sei. Keinem fällt in diesem Augenblick auf, dass das Flugprogramm 16 Minuten zu früh beendet ist. Es ist zu vermuten, dass Serjogin als erfahrener Pilot schlagartig gemerkt hat, dass mit dem Wetter und der Wolkendecke etwas nicht stimmt. Jedenfalls könnte die Situation für den unerfahrenen Gagarin zu kompliziert werden.

Die Erlaubnis zur Rückkehr wird erteilt. Gagarins letzte Worte sind die Bestätigung des Befehls. Dann geht die Maschine in eine 100-Grad-Rechtskurve. 40 Sekunden später ist die Maschine im Geradeausflug und geht in den Sturzflug über, fast direkt nach Süden. Die Flügel bleiben waagerecht.

Keine 30 Sekunden später ist die Maschine am Boden zerschellt. Die kleine MiG hat in einem Winkel von rund 35 Grad die Waldbäume abrasiert und sich dann in den Boden gebohrt. Die Trümmerspur am Boden ist fast 200 Meter lang.

Der ganze Flug dauerte keine dreizehn Minuten. Der Aufschlagpunkt ist ungefähr 65 Kilometer vom Startplatz entfernt in der Nähe der Ortschaft Novoselovo.

Was ist passiert? Das fragt sich jetzt die Untersuchungskommission. Es läuft eine gigantische Untersuchung an. Das noch so kleinste Trümmerteil wird geborgen. 95 Prozent (!) aller Teile werden gefunden. Die Untersuchungsakte füllt 29 dicke Bände. Da fällt mir sofort der fehlende hintere Steuerknüppel ein. Es lässt sich bestimmt feststellen, ob auch der hintere Steuerknüppel unter den Fundstücken gewesen ist. Das Teil ist sehr stabil und sollte den Absturz überstanden haben. Es ist davon auszugehen, dass er auch gefunden wurde. Wenn er im Flugzeug vorhanden gewesen ist.

Rekapitulieren wir kurz noch einmal: Die Maschine ist sehr alt aber flugfähig. Die Maschine ist mit Außentanks ausgerüstet, die für die Flugaufgabe nicht zugelassen sind (Verschlechterung der Aerodynamik). Der hintere Sitz hat vermutlich keinen Steuerknüppel. Der Flugbeobachter kann also nicht eingreifen. Die Wetterinformationen sind nicht aktuell, bzw. falsch in Bezug auf die Wolkenhöhe. Die Wolkengrenze ist niedriger, als angenommen. Der Pilot ist ein Anfänger ohne große Flugerfahrung im Instrumentenflug. Das ist eine beängstigende Mischung an Sachverhalten.

Unter diesen ungünstigen Ausgangspunkten sind jetzt die verschiedenen Erklärungen zu betrachten.

Eine Variante geht davon aus, das Flugzeug ist mit irgendetwas zusammen gestoßen, was urplötzlich auftauchte. Da ist zum Beispiel die These, ein Wetterballon wäre mit der MiG kollidiert. Angeblich gab es in dem Gebiet der Flugzone entsprechende unberechtigte Starts von Wetter-Ballons. Begründet wird das wie folgt: Laut rekonstruierten Instrumentenanzeigen war die Maschine bereits in der Flughöhe enthermetisiert. So, als wenn die Kanzel durch etwas zerstört wurde. Aber man erinnere sich: Das Kabinendruckventil war offen. Die Kabine war sowieso enthermetisiert. Der Beweis für einen Kanzelbruch verpufft. Auch konnten keine Fremdkörper, wie Trümmerteile anderer Fluggeräte oder gar Teile von Vögeln (vermuteter Vogelschlag) nachgewiesen werden.

Aber die Geschichte mit der enthermetisierten Kabine bzw. mit dem Kabinendruckventil ist noch nicht zu Ende. Der ehemalige Oberst der russischen Luftwaffe, Igor Kusnetzow, kam bei eigenen Untersuchungen 2010, also vor Sergejew, zu folgendem Ergebnis: Das Kabinendruckventil war undicht, die Kabine enthermetisiert. Gut, das deckt sich mit den Erkenntnissen von Sergejew. In 4.200 Meter Höhe bemerkten beide Piloten das. Darauf gingen sie in den Sinkflug, um schnell eine tiefere Luftschicht zu erreichen. Warum diese Panik? Normalerweise dürfte diese Höhe bei aufgesetzten Sauerstoffmasken kein Problem darstellen. Kusnetzow geht davon aus, dass beide Piloten keine Maske getragen haben. Dadurch könnte es zu Schwindel und Ohnmacht der Piloten gekommen sein. Die Folge wäre Kontrollverlust und Absturz. Auch hier gibt es Widerspruch durch Fachleute, aber keine abschließende Klärung. So wurde mir gesagt, dass Piloten der NVA einmal jährlich den „Aufstieg“ auf 5.000 Meter Höhe mit einer Verweildauer von 30 Minuten in der Druckkammer trainierten. Ohnmacht bei einem so vorgegeben Sturzflug wurde ausgeschlossen. Auch wurde in der NVA grundsätzlich mit Maske geflogen. Doch wie war es hier?

Aus meiner Sicht könnte dem Kabinendruckventil vielleicht bei einer späteren Untersuchung eine größere Bedeutung zukommen. Wie funktioniert es, bzw. welche Aufgabe hat es? Es regelt die Luftversorgung der Kabine. Bei der MiG15UTI sind vordere und hintere Kabine nicht voneinander hermetisch getrennt. Beim Start ist das Ventil offen. Kabinendruck und Außenluftdruck sind gleich. Bei steigender Höhe nimmt der Außendruck ab. Bei ca. 2.500 Meter Höhe fängt das Kabinendruckventil an, sich langsam zu schließen. Bei 4.000 Meter ist es dann ganz geschlossen und hält den Kabinendruck konstant, bis der Flug wieder unter diese Grenze geht. So die Theorie. Dazu gab es am Armaturenbrett eine Anzeige rechts unten. Auf dem Ventil, oder sagen wir besser Ventilautomat, gab es einen Schalter, der diesen Mechanismus außer Kraft setzte und das Ventil auf Dauer-Auf stellte, unabhängig von der Flughöhe. Sergjews Aussagen sind für mich so zu verstehen, dass das Ventil auf Dauer-Auf geschaltet war. Igor Kusnetzow geht davon aus, es war einfach kaputt. Beide Varianten führen zum selben Ergebnis: Die Kabine war enthermetisiert. Nach dem Material, das mir zugänglich war, befand sich das Ventil mit dem oben angebrachten Stellknopf rechts zwischen dem vorderen Schleudersitz (Gagarin) und der Bordwand. Die Zugänglichkeit kann ich noch nicht einschätzen. Man stelle sich jetzt die Situation vor. Die Piloten stellen plötzlich fest, die Kabine ist undicht. Der Blick sucht die Anzeige, der Blick sucht die mögliche Ursache in Gestalt des Kabinendruckventils. Die weiteren Schlussfolgerungen überlasse ich der Phantasie und der Logik der Unfallforscher. Es geht wie gesagt nur um 30 Sekunden Flug.

A. Weise
Su-15 in Monino 2017
(Bild: A. Weise)

Die populärste Unfall-Variante verbreitet Kosmonaut Alexej Leonow. Ein Flugzeug vom Typ Su-15 soll so nahe an Gagarins Maschine vorbei geflogen sein, dass dieses ins Trudeln geriet und abschmierte. Im Juni 2013 sagte Leonow Journalisten: Die Su-15, die vom Flugplatz Shukowski bei Moskau gestartet war, habe sich unerlaubt in Gagarins Flugzone befunden. Der Pilot der Su-15 sei in einer Wolkenschicht an der Maschine Gagarins mit hoher Geschwindigkeit in einem Abstand von nur 10 bis 15 Metern vorbeigeflogen, wodurch diese umgeworfen worden und ins Trudeln geraten sei. Gagarins Flugzeug habe sich bei einer Geschwindigkeit von 750 Stundenkilometern eineinhalbmal um die eigene Achse gedreht und sei kurz vor dem Abfangen auf der Erde aufgeschlagen. Nach Angaben von RIA Nowosti beruft sich Leonow auf einen frei gegeben Geheimbericht der Kommission, die den Absturz 1968 untersucht hat.

Die Variante mit dem zweiten Flugzeug ist nicht neu. Es gibt Augenzeugen, die das Flugzeug gesehen haben wollen. Nun soll es verschiedene Berichte über ungenehmigte Flugbewegungen in Gagarins Flugzone gegeben haben. Da ist von MiG-21 die Rede. Aber auch von Su-11 und Su-15. Unter Luftfahrtexperten ist das umstritten, dass ein Vorbeiflug die kleine MiG15UTI zum Absturz bringen könnte. Hinzu kommt, dass sich die Silhouetten der verschiedenen Flugzeuge sehr ähneln. Ein Laie kann sie kaum auseinander halten. Alle drei Flugzeugtypen haben aber recht unterschiedliche Leistungsdaten. In Bodennähe wäre nur eine Su-15 in der Lage, Überschall zu fliegen. Das könnte Gagarins Flugzeug gefährlich werden. Aber so viele Su-15 kann es 1968 um Moskau nicht gegeben haben. Der Flugzeugtyp war im Frühjahr 1968 relativ neu. Die Su-15 war erst ein Jahr zuvor auf der Luftparade in Domodedowo der Öffentlichkeit vorgestellt worden.

Der Startort der besagten Su-15, der Flugplatz Shukowski, ist übrigens etwas besonderes. Hier befindet sich nicht nur einer der längsten Landebahnen der Welt, von hier aus starteten auch unzählige Prototypen und Experimentalflugzeuge.

Es sollte möglich sein, Pilot und Maschine laut Einsatz- und Flugplänen zu identifizieren. Leonow kennt angeblich den Namen des Piloten, aber er verrät ihn nicht, weil er sein Ehrenwort gegeben hat. Woran erinnert mich das gleich…? Leonow hatte es dann letztes Jahr noch einmal spannend gemacht, in dem er ankündigte, zum 60. Jahrestag von Sputnik 1 in seinem neuen Buch die ganze Wahrheit zum Tode von Gagarin zu enthüllen. Alle warteten auf Details zu der Geschichte mit der Su-15. Doch das erwies sich als Luftnummer. Ob man Leonow bewusst zurück gehalten hat? Vielleicht war er sich der juristischen Konsequenzen nicht bewusst. Man kann es vereinfacht so sehen: Leonow behauptet, er habe Kenntnis von einem „tödlichen Unfall mit Fahrerflucht“, wobei er vorgibt, den Unfallverursacher sogar namentlich zu kennen. Das sollte doch die Staatsanwaltschaft auf den Plan rufen, oder? Also es ist ein sehr heißes Eisen. Kein Mensch hat sich bislang auf die Suche nach dem im März 1968 auf dem Flugplatz Shukowski stationierten Su-15-Piloten gemacht, der am 27. März 1968 um 10:30 Ortszeit in der Flugzone 20 nördlich seines Flugplatzes geflogen sein soll.

Über mögliche andere Flugbewegungen, auch anderer Luftfahrtzeuge, zur fraglichen Unglückszeit gibt es keine verbindliche Aussage.

Egal. Es gibt somit offiziell keine Beweise, solange Leonows Behauptungen nur als Wichtigtuerei abgetan werden. in der Öffentlichkeit lässt man diese Geschichte aber weiter „köcheln“. Denn diese Unglücksvariante hat den Vorteil, dass es nur einen Schuldigen gibt. Den Piloten der Su. Das ist geradezu ideal, um etwas zuzudecken. Und wozu bedarf es dann noch einer neuen Untersuchung?

Eine weitere These des Unfallherganges besagt, dass Gagarin unbeabsichtigt in die untere Wolkenschicht geflogen ist und dabei die Orientierung verloren hat. Serjorgin als erfahrener Pilot hat nicht eingegriffen. Vielleicht, weil er keinen Steuerknüppel hatte. Bei null Sicht in den Wolken und ohne Erfahrung in der Orientierung mittels Fluginstrumente versucht Gagarin die Wolken nach unten zu durchstoßen. Diese waren aber tiefhängender, als erwartet. Es fehlte einfach die Höhe, um die Maschine abzufangen. Ein ähnlicher Unfall hat sich am 20. September 1960 bei Königswartha, Kreis Bautzen, ereignet. Der Einflug in die untere Wolkendecke war zu steil, so dass die MiG15UTI der NVA nicht mehr rechtzeitig abgefangen werden konnte. Beide Piloten kamen ums Leben.

Ich bin kein Luftfahrtexperte. Ich werde mir nicht anmaßen, den Spezialisten zu erklären, was hier schief gelaufen sein könnte. Ich wollte auch hier nicht ALLE Details zusammen tragen. Mir stehen nur öffentlich zugängliche Quellen zur Verfügung. Aber der Nebel scheint sich ein wenig zu lichten. Auf Grund der Erkenntnisse, die in der Öffentlichkeit rund um den Flug an jenem verhängnisvollen Tag aufgetaucht sind, wäre es wünschenswert, wenn Fachleute sich das alles noch einmal ansehen. Zu viele Ungereimtheiten gibt es. Und dabei meine ich auch die Ereignisse vor dem Flug und nicht nur den unmittelbaren Zeitpunkt der Katastrophe.

Wonach man suchen müsste, liegt auf der Hand. Ein Steuerknüppel, ein Kabinendruckventil, eine Krankenakte, ein Flugplan für die anderen Flugbewegungen, einen Namen eines Su-15-Piloten, einen Terminkalender der letzten zwei Wochen, zwei Sauerstoffmasken. Es gäbe genug zu suchen.

Die Klärung von alle dem erscheint nicht völlig aussichtslos.

Auch sollte es einen prominenten Zeugen des Geschehens um den Gagarin-Flug geben. Am selben Tag, dem 27. März 1968, hatte Kosmonaut Walidimir Schatalow auf dem selben Flugplatz einen Flug mit einer MiG-17. Es ist der selbe Flugzeugtyp, mit dem Gagarin ursprünglich fliegen sollte. In Marinskys Buch lesen wir, dass er beim Briefing vor Gagarins Flug dabei war. Er sollte damit das ganze Hickhack um den Überprüfungsflug mit der MiG15UTI, Bordnummer 18, mitbekommen haben. Seine Aussage wäre somit sehr wichtig zur Aufklärung der Sachlage. Satalow wurde 1971 Nachfolger von Kamanin und schied 1992 im Range eines Generalleutnants aus der Luftwaffe aus. Er ist heute 90 Jahre.

All das bedeutet aber die Wiederaufnahme der Unfalluntersuchung.

Traditionell ist zu einem großen Jahrestag mit der Freigabe und der Veröffentlichung von weiteren, bis dato geheimen Dokumenten zu rechnen. So ein Jahrestag wäre der 50. Todestag von Gagarin. Sergejews Aussagen sind bislang nur in Deutschland als Buch erschienen. Aber es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die unbequemen Dinge, die Sergejew zum Ausdruck gebracht hat, auch in Russland gehört worden sind. Seine Behauptung, in der hinteren Kabine der Unglücks-UTI habe sich kein Steuerknüppel befunden, zieht eine ganze Kette von Fragen hinter sich her, die die offiziellen Untersuchungsergebnisse von 1968 ins Wanken bringen können. Neben den Aussagen von vielen Zeugen fehlt nur noch der abschließende Beweis. Und dieser lagert in zugelöteten Fässern, in denen die Trümmer der MiG15UTI, Bordnummer 18, auf unbestimmte Zeit eingelagert und versiegelt wurden.

Doch warum das alles? Warum im Staub längst vergangener Geschichten rumwühlen? Lasst doch die Toten ruhen und stört nicht die Lebenden!

Was stand am Anfang des Beitrages?
Es besteht das ungeschriebene Gesetz: Ein Flugunfall ist aufzuklären. Egal, wie lange es dauert. Dabei sind die Ursachen des Unfallereignisses zu ermitteln. Aus den gewonnenen Erkenntnissen sind dann Maßnahmen abzuleiten, damit so ein Flugunfall nie wieder passieren kann.

Ich bin überzeugt, dass es bald Bewegung in dieser Geschichte geben wird. Und dann lesen wir uns zum Update dieses Beitrages wieder. Fortsetzung dieser Geschichte in naher Zukunft also nicht ausgeschlossen.

A. Weise
verwendete Quellen
(Bild: A. Weise)

Quellen:
Gagarin, Er könnte noch leben; Sergejew; Machtwortverlag 2016

Der unbekannte Gagarin; Kowalski; Machtwortverlag 2015 Raumfahrt Concret Heft 66; 1/2011; RC-Extra Nr. VII

Скрытый Космос; Kamanin; Band 3; Moskau 1999 Raketen und Menschen, Band 3, Elbe-Dnjepr-Verlag, 2001

Alexej Leonow: Gagarin starb durch „unvorsichtiges Manöver“ eines anderen Flugzeuges

Wikipedia: Yuri Gagarin

Undichtes Luftventil schuld an Gagarins Tod? MiG-15; Göpfert; PPVMedien; 2016

Juri Gagarin – Das Leben; Marinsky, Verlag Neues Leben 2011 http://home.snafu.de/veith/verluste25.htm

Danksagung:
Mein besonderer Dank für die geduldige Beantwortung meiner Fragen und die Zusendung von Material und Informationen gilt:

Herrn Gerhard Kowalski

Herrn Dr. sc. mil. Reiner Göpfert Herrn Norbert Kalz, Flugplatzmuseum Rothenburg

Flugplatzmuseum Cottbus, Werkstattbereich

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