G. Kowalski über „Gagarin – Er könnte noch leben“

Zum Unfalltod Gagarins, der sich am 27. März zum 48. mal jährte, gibt es neue Erkenntnisse. Dargelegt sind diese im Buch „Gagarin – Er könnte noch leben“ von Oberst a.D. Nikolai K. Sergejew. Der Herausgeber und Übersetzer Gerhard Kowalski gab Raumfahrer.net am Rande der Leipziger Buchmesse 2016 ein Interview.

Erstellt von Andreas Weise. Quelle: Interview.

Zwei aktuelle Bücher über Gagarin.
(Bild: Andreas Weise)
Zwei aktuelle Bücher über Gagarin.
(Bild: Andreas Weise)

Raumfahrer.net (RN): Herr Kowalski, das vorliegende Buch gibt an, das Rätsel um den Absturz von Gagarins MiG endgültig gelöst zu haben. Ist das Rätsel endgültig gelöst?

Gerhard Kowalski: Nein, das stimmt nicht ganz. Das ist eine Fehlinterpretation des Buches. Das Rätsel ist noch nicht gelöst. Wir sind aber auf dem Weg zu seiner Lösung einen ganzen Schritt weiter gekommen. So ist völlig überraschend für mich herausgekommen, dass Gagarin an dem Tag, an dem er abgestürzt ist, keinen Kontrollflug mit der MiG-15 UTI (Anmerkung: Schulflugzeug, Doppelsitzer) mehr machen sollte. Es sollte gleich mit einer MiG-17 allein fliegen. Er hat dann aber trotzdem einen Kontrollflug gemacht, weil Nikolai Kamanin, also der Kosmonautenchef, es angewiesen hat.

RN: Der Autor des Artikels, den Sie hier veröffentlichen, schreibt, er habe über einem Monat für diesen Artikel gearbeitet. Ist das nicht etwas kurz?

Gerhard Kowalski: Das ist sehr kurz. Das hat mich auch gewundert. Ich habe es aber so gelassen. Ich habe den Text so im Wortlaut übernommen, ohne ihn in allen Einzelheiten zu kommentieren. Das überlasse ich den Lesern.

Ich habe aber ein relativ scharfes Nachwort geschrieben, denn der Text wirft einige Fragen auf. Was mich auch gewundert hat, ist, dass ein Oberst der Sowjetarmee so selbstverliebt ist. Er hat sehr viel über sich gesprochen, anstatt die Fakten, was man ja von einem Offizier erwarten kann, einfach nur darzulegen. Aber auch das steht alles im Nachwort. Das hat er übrigens noch nicht gelesen. Also wenn er das liest, wird er sich bestimmt etwas wundern. Aber das musste einfach gesagt werden.

Gagarin-Denkmal in Ostankino, Moskau
(Bild: Andreas Weise)

RN: Der Artikel ist im Juni 2014 beendet worden. Ist er in Russland veröffentlicht worden?

Gerhard Kowalski: Nein. Nikolai Sergejew hat diesen Beitrag Jelena Gagarina (Anmerkung: Gagarins ältere Tochter) geschickt und auch gewidmet. Sie hat ihn gelesen, wollte sich aber dazu nicht äußern, sondern hat den Text ihrer Schwester Galina gegeben. Und als im vergangenen Jahr mein Buch „Der unbekannte Gagarin“ erschienen ist, habe ich ihr direkt von der Leipziger Buchmesse ein Exemplar geschickt. Es hat übrigens vier Wochen gedauert, bis es in Moskau ankam. Sie hat mich dann angemailt, sich bedankt und dann geschrieben: „Übrigens, ich habe von meiner Schwester einen Text bekommen zum Absturz meines Papas. Interessiert der Sie?“

Ich habe geantwortet, dass er mich natürlich interessiert. Sie hat ihn mir dann geschickt, und ich habe gefragt: Dürfen wir den veröffentlichen? Und Sie hat Ja gesagt.
Wie mir Sergejew geschrieben hat, soll übrigens ein Teil dieses Textes schon im Internet stehen.
Er hat mir auch mitgeteilt, dass er zu diesem Text ein Interview mit einer Zeitung in Texas gemacht hat. Ich habe gesagt: O.K. Er ist ein freier Mann. Er kann mit seinem Text machen, was er will.

Ich habe den Text von Frau Gagarina mit der ausdrücklichen Erlaubnis bekommen, die Sache zu veröffentlichen. Kann sein, dass da noch etwas herum schwirrt, aber bis jetzt habe ich trotz intensiver Suche nichts gefunden. Auch das angebliche Interview mit der texanischen Zeitschrift habe ich nie gesehen.

RN: Sergejew lebt ja in den Vereinigten Staaten …

Gerhard Kowalski: Ja, er lebt in den Staaten, in Texas, und arbeitet als Cessna-Fluglehrer.

RN: Der Artikel widerspricht dem offiziellen Untersuchungsbericht, der besagt, die Technik und die Flugvorbereitung wären in Ordnung gewesen. Das ist doch ein Angriff auf die offizielle Darstellung.

Gerhard Kowalski: Wenn man so will, ja. Es ist auf jeden Fall eine Korrektur der offiziellen Darstellung. Denn der Kontrollflug, bei dem Gagarin abgestürzt ist, wurde als ein geplanter Kontrollflug mit einer perfekten Maschine, allerdings bei schlechten Witterungsbedingungen usw., dargestellt. Und Sergejew widerspricht dem.

Ich habe übrigens in meinem Nachwort darauf hingewiesen, dass sich Dreifachkosmonaut Wladimir Schatalow (Anmerkung: Sojus-4, -8 und -10) zusammen mit Gagarin an dem Tag auf einen Start mit einer MiG vorbereitet hat, wie in seinem Buch „Kosmischer Alltag“ nachzulesen ist. Er hat darin aber nicht gesagt, dass Gagarin mit so einer unvorbereiteten Kiste losgeflogen ist. Insofern bin ich gespannt, was er jetzt dazu sagt. Schatalow könnte helfen, hier weiter aufzuklären. Mit dem Buch von Sergejew ist auch diese Frage in der Welt, und man wird sehen, welche Reaktionen es darauf gibt.

RN: Wird dieses Buch auch in Russland gelesen werden?

Gerhard Kowalski: Vielleicht, hoffentlich. Zu diesem Buch gibt es bislang, das heißt bis zum 17. März, eine einzige Rezension. Und die stammt von Galina Gagarina. Sie hat mir geschrieben, dass dieses Buch sicher nicht nur für die deutschen, sondern auch für die russischen Leser interessant ist. Die beste Rezension, die man sich wünschen kann!

RN: Sie konnten Einsicht in den KGB-Bericht zu Gagarins Tod nehmen. Widersprechen sich nicht hier einige Aussagen? Ich denke an die Befehlskette Kamanin-Kusnezow-Serjorgin. Oder an die Geschichte mit dem fehlenden Steuerknüppel in der hinteren Kabine. Dies hätte doch in dem Bericht mit drin stehen müssen.

Gerhard Kowalski: Nein! Das hätte nicht mit drin stehen müssen. Die KGB-Leute haben sich nur darauf konzentriert, was an dem Tag bei der Flugvorbereitung schief gegangen ist. Die haben sich um die Personen gekümmert und beim Namen genannt. Hier ist zum ersten Mal gesagt worden, wer für was verantwortlich war. Und das teilweise sehr drastisch. Ich glaube, das widerspricht sich nicht.

Immer authentisch und mit Leib und Seele dabei: Gerhard Kowalski.
(Bild: Andreas Weise)

Der KGB ist ja erst im Nachgang eingeschaltet worden, und wenn man dem gesagt hat, der Flug selber war regulär, war ein geplanter Kontrollflug, dann haben die an dieser Stelle angefangen, ohne zurück zu recherchieren. Also das haben sie offensichtlich nicht gemacht.

RN: In dem Buch wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das Kabinenbelüftungsventil nicht geschlossen war. Hatte das nicht Auswirkungen auf den Flug? Der Flug war zwar unter 5.000 Meter. In manch anderen Theorien ist von einer plötzlichen Dekompression der Kabine die Rede.

Gerhard Kowalski: Das taucht in dem Buch nirgendwo auf. Es taucht nur der Fakt auf, dass es so war – das Ventil offen. Hinzu kommt, dass diese MiG-15 UTI in der Tschechoslowakei gebaut wurde. Und diese soll ein anderes Ventil haben, als die Maschinen, die in der Sowjetunion gebaut wurden. Man hat es vermutlich übersehen.

RN: Es existiert übrigens noch eine flugfähige MiG-15 UTI (Anmerkung: heutige Registrierung OK-UTI) aus jener Produktion von Aero Vodochody bei Prag aus den 50er Jahren. Da könnte man mal nachschauen und vergleichen.

Gerhard Kowalski: Ich bin kein Flugzeugspezialist. Es geht da um irgendeinen Hebel, jedenfalls um einen anderen Schließmechanismus. Und den kannten sie nicht. Und das deutet natürlich auf eine mehr als schlechte technische Flugvorbereitung hin.

RN: Wie ist die andere Theorie aus Ihrer Sicht zu bewerten, die die absolute Wahrheit für sich vereinnahmt? Ich meine die Version von General Leonow mit dem zweiten Flugzeug, einer Su-15?

Gerhard Kowalski: Auf diesen Widerspruch haben wir schon in meinen Gagarin-Büchern aufmerksam gemacht. Zu dieser Sache hat sich ja auch Galina Gagarina in meinem Nachwort geäußert: Er will sich damit bei Präsident Putin interessant machen.

Eines aber bleibt: Leonow ist ein sagenhaft guter Kosmonaut gewesen. Ein wirklicher Held, der dem Tod mehrfach ins Auge geschaut hat und dann von der Schippe gesprungen ist. Er sollte auch der erste Russe auf dem Mond sein. Er ist auch ein sagenhaft guter Künstler (Anmerkung: Leonow malt.) Er ist aber auch ein begnadeter Selbstdarsteller. Und da darf man nicht alles auf die Goldwaage legen, was er sagt. Und er hat sich ja auch geweigert, die entsprechenden Beweise zu erbringen. Es ist eben sein Geheimnis.

Gagarin-Denkmal, Erfurt
(Bild: Andreas Weise)
Gagarin-Denkmal, Erfurt
(Bild: Andreas Weise)

RN: Nun kommt ja dazu, dass die Sache auch was für sich hat. Die Theorie vom Einzeltäter schützt vor weiteren Untersuchungen und schließt die Geschichte ab.

Gerhard Kowalski: Nein. So habe ich die Sache noch nicht gesehen. Wenn Leonow sagt, er weiß, wer die Su-15 geflogen hat, dann muss er damit rechnen, dass man nachfragt und dass die Journalisten der Sache nachgehen. Aber eigentümlich ist schon: Alles, was neu zu dem Fall Gagarin in den letzten Jahren öffentlich wurde, ist von der russischen Presse, auch von der Fachpresse, nicht verfolgt worden. Also für die ist die Sache abgeschlossen. Für die gilt immer noch die Version, dass Gagarin unter unglücklichen Umständen abgestürzt ist.

Aber so kann man die Sache nicht stehen lassen. Und das Buch haben wir genau deshalb gemacht – und das steht auch ausführlich im Nachwort -, weil wir der Meinung sind: Das war ein Flugunfall, der noch nicht 100prozentig geklärt ist. Und die Sache muss geklärt werden. Es ist ein ungeschriebenes Gesetzt in der Luftfahrt, dass die Ursachen eines Flugunfalls geklärt werden müssen, auch wenn es 50 Jahre dauert. Und dazu wollen wir ein wenig anstoßen.

RN: Wie sind die Chancen, dass es zu einer offiziellen Wiederaufnahme der Untersuchung kommt?

Gerhard Kowalski: Das weiß ich nicht. Vielleicht erscheint das Buch auch bei den Russen, wie Frau Gagarina angeregt hat. Es sind ja die ureigenen russischen Angelegenheiten und ihr eigenes Interesse. Es wäre natürlich für mich die Krönung nach 50 Jahren Beschäftigung mit Gagarin, wenn die Untersuchung der Umstände seines Flugunfalls wieder aufgenommen würde.

RN: Das wäre ja schon fast die Schlussfrage gewesen. Aber noch einmal nachgehakt: Interessiert das überhaupt jemanden in Russland?

Gerhard Kowalski: Es interessiert leider keinen Menschen. Das habe ich in meinen Büchern auch schon angedeutet. Auch bei der Geschichte, mit der Leonow herausgekommen ist, hätte man gleich nachhaken können und müssen. Aber das hat niemand gemacht, was mich sehr, sehr wundert. Man hätte da ganz groß journalistisch einsteigen können. Hat niemand gemacht. Das ist mir total schleierhaft. Ich glaube auch nicht, dass da ein Verbot existiert. Ich glaube eher, da herrscht noch das alte Denken aus Sowjetzeiten vor, an bestimmte Sachen nicht zu rühren.

RN: Herr Kowalski, ich bedanke mich für das Gespräch.

Das Interview führte Andreas Weise für Raumfahrer.net am 17. März 2016 in Leipzig.

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