Sie sollte der erste europäische Träger werden, wurde jedoch zum Desaster: Die „Europa“ war einer der größten Fehlschläge der Geschichte der europäischen Raumfahrt, doch führte sie schließlich zur Ariane.
Die Europa war der erste Versuch Westeuropas, eine eigene Trägerrakete zu entwickeln. Basierend auf der englischen Mittelstreckenrakete Blue Streak war sie der Versuch, in den Satellitenmarkt, der sich grade entwickelte, einzusteigen. Jedoch wurde das Programm ein Desaster und schließlich von den verschiedenen Entwicklungsländern aufgegeben.
Entwicklung
Die Entwicklung der Europa begann 1962, als sechs europäische Staaten (BR Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande) die European Launcher Development Organisation (ELDO, Europäische Trägerentwicklungsorganisation) gründeten. Man entschied sich schnell, einen Träger auf Basis der britischen Mittelstreckenrakete Blue Streak, die in der Technik der Atlas ähnlich ist, zu verwenden. Die Blue Streak wurde Ende der 1950er Jahre entwickelt worden, um britische Atombomben tief ins Gebiet der UdSSR zu bringen. Sie wurde aber schon Anfang der 1960er Jahre ausgemustert, weil sie, wie die Atlas, nur als Erstschlagwaffe effektiv war. Die Tests der Blue Streak fanden von Woomera in Australien aus statt. Das britische Militär wollte die ausgemusterten Blue Streaks als Trägerraketen weiterbenutzen und so wurden sie schnell der ELDO übergeben. Diese hatte schon früh gravierende Mängel: Die ELDO hatte (heute völlig unvorstellbar) keinen Hauptauftragnehmer, sondern jedes Land hatte mehrere Unterauftragnehmer, die ihren Teil entwickelten. Die Verteilung der Entwicklungselemente wurde durch die Beteiligung der jeweiligen Mitgliedernationen in der ELDO: Großbritannien zahlte insgesamt 39% des ELDO-Budgets und wurde mit der Entwicklung der Erststufe beauftragt. Frankreich zahte 24% und sollte so die zweite Stufe entwickeln. Die dritte Stufe sollte Deutschland, dass 19% zahlte, übernehmen. Deutschland hatte sich zunächst vollkommen geweigert, an der Entwicklung mitzuarbeiten, da man der Ansicht war, Nutzlasten könnten auch mit amerikanischen Trägern gestartet werden. Italien mit 10% Beteiligung sollte den Testsatelliten bauen, während Belgien für die Bahnverfolgung und die Niederlande für die Telemetrie zuständig waren. Da die Blue Streak als Erststufe geplant war und sich die Startrampen in Australien befanden, wurde es kurzerhand zum Mitglied der ELDO gemacht.
Als Nutzlastkapazität waren für die Europa 1 1.200 kg in einem LEO und 200 kg in den GTO vorgesehen. Doch schon einige Zeit nach dem Beginn der Entwicklung war diese Nutzlastkapazität zu gering, weswegen man eine Weiterentwicklung plante, die Europa 2. Sie sollte 400 kg in den GTO bringen, immer noch zu wenig für diese Zeit. Dabei sollte Frankreich eine Viertstufe entwerfen, die von der Diamant, der ersten französischen Trägerrakete, abstammen sollte.
Technik
Die Europa 1 war eine dreistufige Rakete, die sowohl mit Kerosin und flüssigem Sauerstoff (LOX) als auch mit den Treibstoffen Aerozin 50 (eine Mischung aus jeweils 50% UDMH und Hydrazin) bzw. UDMH und Distickstofftetroxid betrieben wurde. Die Stufen im Detail:
- Die erste Stufe war eine modifizeirte Blue Streak und wurde von Großbritannien gebaut. Sie war 18,4 Meter lang, hatte einen Durchmesser von 3,05 m und wog vollbetankt 94,9 t. Ihre Triebwerke hatten einen Schub von 1.334 kN bei der Europa 1 und 1.512 kN bei der Europa 2, brannten 160 Sekunden lang und benutzten als Treibstoff Kerosin und als Oxidator flüssigen Sauerstoff. Ihre Technik entspricht der der Atlas, so ähneln ihre zwei Haupttriebwerke den Marschtriebwerken der Atlas D und sie benutzt druckbeaufschlagten Tanks. Aber es gab auch unterschiede zur Atlas: So waren die zwei Triebwerke schwenkbar, sodass sie die Rakete ohne zusätzliche Vernierdüsen steuerten. Für die Europa 2 wurde mehr Treibstoff mitgeführt und die Triebwerke wurden verbessert, um die Viertstufe tragen zu können.
- Die zweite Stufe wurde von Frankreich gebaut und Coraile genannt. Sie war 5,5 m lang, hatte einen Durchmesser von 2 m und wog voll betankt 11,9 t. Ihre Triebwerke leisteten einen Schub von insgesamt 274 kN, brannten 100 Sekunden lang und verwendeten als Treibstoff UDMH und als Oxidator Distickstofftetroxid. Sie ist eine sehr einfache Stufe und verwendet z. B. keine Turbopumpen für die Treibstoffversorgung.
- Die dritte Stufe wurde von Deutschland gebaut und Astris genannt. Sie war 3,82 m lang, hatte einen Durchmesser von 2 m und wog voll betankt 3,4 t. Ihr Triebwerk hatte einen Schub von 23,3 kN, brannte 360 Sekunden lang und als Treibstoff benutzte sie Aerozin 50 und Distickstofftetroxid als Oxidator. Sie war der Wiedereinstieg Deutschlands in den Raketenbau, nachdem die meisten Konstrukteure der V2, wie etwa Wernher von Braun, in die USA, die UdSSR und nach Frankreich gebracht worden waren. Die Konstrukteure der Astris waren einige wenige Ingenieure der V2, vor allem aber junge Ingenieure, die den Zweiten Weltkrieg größtenteils nicht erlebt hatten. Doch trotz der unerfahrenen Konstrukteure war die Drittstufe der modernste Teil der Europa. Sie wurde aus leichten Metalllegierungen gebaut und das Triebwerk war kardanisch aufgehängt, damit es geschwenkt werden konnte, Für die Regulation der Rollachse hatte sie zwei kleine Vernierdüsen und alle drei Triebwerke wurden mit einer Druckgasbeaufschlagung mit Treibstoff versorgt. Für die Europa 2 wurde mehr Treibstoff verwendet, um die Viertstufe mitführen zu können.
- Die vierte Stufe wurde nur in der Europa 2 eingesetzt und von Frankrech bereitgestellt. Bei der Etage de Périgeé handelte es sich um eine modifizierte Drittstufe der Diamant. Sie war 2,02 m lang, hatte einen Durchmesser von 0,73 m und wog voll betankt 810 kg. Sie erbrachte einen Schub von 41,2 kN, brannte 45 Sekunden lang und benutzte als Festtreibstoff Isolane 29/9, eine spezielle Mischung aus Ammoniumperchlorat, Polyurethan und Aluminium, die nur in Frankreich eingesetzt wurde. Am oberen Ende der Stufe befand sich ein Dralltisch, der sowohl Stufe als auch Satellit für die Lagestabilisierung zur Rotation brachte.
Technischen Daten
Stufen | 3 (Europa 1) / 4 (Europa 2) |
Höhe | 31,70 m |
Durchmesser | 3,70 m |
Startschub | 1.334 kN (Europa 1)/ 1.512 kN (Europa 2) |
Startmasse | 105,4 t (Europa 1)/ 112,4 t (Europa 2) |
Treibstoffmasse | 96,25 t (Europa 1)/ 102,67 t (Europa 2) |
Max. Nutzlast | 1.200 kg (1)/ 1.440 kg (2) (LEO); 850 kg (1) (SSO); 200kg (1)/ 400 kg (2) (GTO) |
Erster Start | 5. Juni 1964 (Europa 1); 5. November 1971 (Europa 2) |
Letzter Start | 12. Juni 1970 (Europa 1); 5. November 1971 (Europa 2) |
Treibstoff | RP-1/LOX (1. Stufe); UDMH/N2O4 (2. Stufe); Aerozin 50/N2O4 (3. Stufe); Isolane 29/9 (2. Stufe, nur Europa 2) |
Triebwerke | 1. Stufe: 2x Rolls-Royce RZ-12 2. Stufe: 4x Vexin A 3. Stufe: 1x MBB/ERNO Astris 4. Stufe (nur Europa 2): 1x SEP P0.7 |
Starts
Das Test- und Startprogramm war ein einziges Desaster. Zwar waren die ersten fünf Starts erfolgreich, wobei nur die Blue Streak bzw. beim vierten und fünften Start ein Modell der Zweitstufe transportiert wurde. Doch danach ging alles schief. Bei fünf Flügen gab es Probleme mit verschiedensten Systemen der Zweit- und Drittstufe sowie der Stufentrennung. Die Probleme lagen darin, dass die Stufen an sich zwar ausgiebig getestet wurden, doch das Gesamtgefüge nicht. Und zu allem Überfluss stieg Großbritannien 1969 aus und verkaufte die Blue Streaks der ELDO. Die fehlenden Gelder wurden durch die anderen Mitgliedsnationen, vor allem von Deutschland, kompensiert. Nach dem zehnten Flug der Europa 1 verwendedete man die Europa 2 mit der französischen Viertstufe, aber nun startete man vom Centre Spacial Guyanaise in Französisch-Guyana (wo bis heute die Ariane-Trägerraketen starten). Der einzige Start war ebenso ein Fehlschlag. Da Frankreich mit Deutschland das L3S-Programm (die spätere Ariane 1) favorisierten, stiegen sie schließlich 1972 aus der ELDO aus. Ein Jahr später stellte die ELDO das Europa-Programm vollständig ein. Übrig gebliebene Raketen wurden entweder verschrottet oder an Museen wie zum Beispiel das Deutsche Museum Flugwerk Schiessenheim in der Nähe von München übergeben und ausgestellt.
Weg zur Ariane
Schon vor den Starts der Europa 1 hat man über eine Verbesserung der Europa nachgedacht. Diese Studie erhielt den Namen Europa III, wobei es fünf verschiedene Versionen gab:
- Die Europa III A hätte als Erststufe, wie die vorherigen Versionen, eine Blue Streak verwendet, aber die Zweitstufe wäre eine neu entwickelte Stufe mit den kyrogenen Treibstoffen LH2 und LOX. Dieses Konzept entspricht etwa dem der Atlas Centaur.
- Die Europa III B dagegen hätte eine neue Erststufe mit Triebwerken vom Typ Viking, die später auch in der Ariane verwendet wurden, und einer kyrogenen Zweitstufe gehabt.
- Die Europa III C hätte zwar eine neue Erststufe, aber würde vier der Triebwerke der Blue Streak verwenden. Auch hier würde man eine kyrogene Zweitstufe verwenden.
- Die Europa III D würde zwei Stufen mit kyrogenen Treibstoffen verwenden.
- Die Europa III E schließlich sollte aus drei konventionelle Stufen bestehen. Die Erststufe sollte eine Bündelung von drei bis sieben Einzelstufen sein, während die Zweitstufe eine Neuentwicklung gewesen wäre. Als Drittstufe hätte man die Zweitstufe Coralie der Europa 1 und 2 verwendet.
Als Deutschland und Frankreich aus der ELDO austraten, wollte Frankreich einen Nachfolger für seinen eigenen Träger, die Diamant. Dafür plante man mit Deutschland, das Konzept der Europa III B zu verwenden, wollte aber eine weitere Zweitstufe mit ähnlichem technischem Aufbau wie die erste Stufe nehmen, um so die Entwicklungskosten für die kyrogene Stufe gering zu halten. Diese Rakete wurde dann L3S genannt und von der ESA, die 1975 aus der Zusammenlegung von ELDO und der bisherigen europäischen Weltraumorganisation ESRO (European Space Research Organisation) entstand, favorisiert. Die L3S wurde später in Ariane umbenannt und Frankreich übernahm die Führung des Programms, das zu einer der erfolgreiches Trägerfamilien der Welt führte. Die Ariane entstand somit wie ein Phönix, aus der Asche der Europa.
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