ESA-Satellit ARTEMIS auf geostationärer Bahn

Wie aus einem Quasi-Verlust ein voller Erfolg wurde

Eine Information der European Space Agency (ESA). Quelle: ESA 18. Februar 2003.

(Bild: ESA)

Freitag, den 31. Januar 2003, am späten Nachmittag: Nach einem letzten Korrekturmanöver erreicht der ESA-Nachrichtensatellit ARTEMIS seine vorgesehene Position in der geostationären Umlaufbahn. Damit wurde eine spektakuläre Rettungsaktion nach 18 Monaten erfolgreich zum Abschluß gebracht.
Die ungewöhnliche Route, die ARTEMIS letztlich auf seine Einsatzposition führte, war lang, schwierig und von unerwarteten Problemen gesäumt. Jedoch konnte dank des Sachverstands eines Teams aus Ingenieuren und anderen Fachleuten der ESA, des Hauptauftragnehmers Alenia Spazio, des für die Entwicklung des Ionenantriebssystems verantwortlichen Unternehmens Astrium und des Betreibers der Kontrollstation in Fulcino, Telespazio, sowie des Einsatzes eines hierfür nicht vorgesehenen experimentellen Systems die Mission gerettet werden. Das Ionenantriebssystem, mit dem ARTEMIS eigentlich ausgestattet ist, um eine etwaige Abdrift aus der Zielbahn korrigieren zu können, wurde zum Schlüssel für die Überwindung der letzten 5 000 km des Satelliten bis zu seiner geostationären Einsatzbahn.

Wegen eines Funktionsfehlers in ihrer Oberstufe hatte die Ariane 5 den Satelliten in einer zu niedrigen elliptischen Umlaufbahn ausgesetzt: Das Apogäum (größte Entfernung von der Erde) lag lediglich bei 17 487 km und damit weit entfernt von dem der anvisierten geostationären Übergangsbahn, d.h. 35 853 km. Spezialisten der ESA und der Industrie reagierten unverzüglich mit einer Reihe innovativer Steuermanöver: Unter Verwendung fast seines gesamten chemischen Treibstoffs konnte ARTEMIS bereits wenige Tage nach dem Start der anfänglichen Umlaufbahn, die ihn durch die tödlichen Van Allen-Strahlungsgürtel führte, entfliehen und unversehrt eine kreisförmige Parkbahn in 31 000 km Höhe erreichen.

Ein langer Weg bis zur geostationären Umlaufbahn
Seither gingen die Rettungsbemühungen unter Verwendung der in redundanten Paaren an dem Satelliten angebrachten vier Ionentriebwerke unvermindert weiter. Diese neuartigen Triebwerke funktionieren nicht mit herkömmlichem chemischem Treibstoff, sondern mit ionisiertem Xenongas. Ursprünglich sollten sie lediglich dazu dienen, mit Impulsen senkrecht zur Bahnebene die Neigung des Satelliten zu regeln. Das Rettungsverfahren erforderte jedoch Impulse in der Bahnebene, um den Satelliten auf seine Endbahn zu hieven. Ermöglicht wurde dies dadurch, daß der Satellit in der Bahnebene um 90° gegenüber seiner normalen Lage gedreht wurde.

Unter optimaler Nutzung der Flugkonfiguration des Satelliten wurden neue Strategien entwickelt, um nicht nur die Bahnhöhe anzuheben, sondern auch der natürlichen Erhöhung der Bahnneigung entgegenzuwirken. Um diese neuen Strategien umzusetzen, waren neue Bahn- und Lageregelungsverfahren, ein neues Stationsnetzwerk und neue Flugkontrollverfahren notwendig.

Das neue Verfahren zur Steuerung der Ionentriebwerke schloß völlig neue Regelmethoden, die noch nie auf einem Nachrichtensatelliten verwendet wurden, sowie neue Nahtstellenfunktionen zur Verarbeitung von Fernsteuerungs-, Telemetrie- und anderen Daten ein. Insgesamt mußten rund 20 % der ursprünglichen Satellitenkontrollsoftware umgeschrieben werden. Dank des umprogrammierbaren Bordkontrollkonzepts konnten diese Änderungen in Form von Software-Paketen per Datenaufwärtsverbindung zum Satelliten gefunkt werden – insgesamt 15 000 Wörter und damit die umfangreichste Neuprogrammierung von Flugsoftware, die je bei einem Nachrichtensatelliten vorgenommen wurde.

Ende Dezember 2001 war die Arbeit an der neuen Software abgeschlossen; für ihre Validierung wurde der Simulator des Satelliten als Prüfstand genutzt. Mit der Charakterisierung der vier Ionentriebwerke waren sämtliche Vorbereitungsarbeiten abgeschlossen, worauf am 19. Februar 2002 die Bahnanhebungsmanöver mit dem Ionenantriebssystem eingeleitet wurden.

Seit Beginn der Manöver mußten die Satellitenlotsen auf zahlreiche unvorhergesehene Situationen reagieren, da ein realistischer Test der neuen Strategie nur am Satelliten selbst möglich war. Anders als bei herkömmlichen Flugabnahmeprüfungen stand für die detailgetreue Erprobung dieses Szenarios kein Prüfstand zur Verfügung.

Dank der hohen Flexibilität und Redundanz des Systementwurfs konnte die Bahnanhebung stetig fortgesetzt werden, wenn auch langsamer als theoretisch möglich. Mit dem bescheidenen Schub seiner Ionentriebwerke von nur 15 Millinewton – etwa so, als wolle man ein großes Frachtschiff mit einem Außenbordmotor antreiben – hat ARTEMIS durchschnittlich 15 km pro Tag zurückgelegt.

Nutzlasterprobung und Leistungsprüfung
Zwischen der Ankunft in der Parkbahn und dem Beginn der Bahnanhebungsmanöver vergingen mehrere Monate, die für Versuche mit den Nutzlasten zur Überprüfung ihrer Leistungen genutzt wurden.

Die Nutzlastversuche erstreckten sich über den Zeitraum November/Dezember 2001. Sie konnten nur alle fünf Tage durchgeführt werden, nämlich wenn der Strahl der für die Aufwärtsverbindung bestimmten Antenne auf ARTEMIS die Teststation der ESA in Redu (Belgien) „ausleuchtete“. Weitere Einschränkungen ergaben sich aus der Tatsache, daß einige Nutzlastfrequenzen nur benutzt werden können, wenn sich ARTEMIS auf oder in der Nähe seiner nominalen Bahnposition befindet.

Dennoch wurden genügend Gelegenheiten gefunden, um den Nachweis zu erbringen, daß alle Nutzlasten (S-Band-, Ka-Band- und optische Datenrelaisnutzlast, Navigations- und L-Band-Mobilfunknutzlast) einwandfrei arbeiten und ihre Leistungen den Testergebnissen vor dem Start entsprechen, d.h. die Spezifikationen voll erfüllen.

Nachgewiesen wurde auch, daß das im geschlossenen Regelkreis arbeitende System zur Nachführung der Ka-Band-Antenne für Satellit-zu-Satellit-Verbindungen plangemäß funktioniert. Die Antenne erfaßte ein von der Station in Redu ausgesandtes Signal und hielt die Verbindung automatisch aufrecht, während ARTEMIS langsam über den Himmel driftete.

Weltpremiere noch vor dem Ziel
Am spektakulärsten war jedoch der Nachweis der SILEX-Relaisfunktion. Nach einer ersten erfolgreichen Funktionsprüfung unter Einsatz der optischen ESA-Bodenstation auf Teneriffa konnte zwischen ARTEMIS und dem französischen Fernerkundungssatelliten SPOT-4 eine optische Verbindung hergestellt werden. Am 30. November 2001 wurden weltweit zum ersten Mal Bilddaten eines niedrig fliegenden Raumfahrzeugs mittels Laser zu einem (nahezu) geostationären Satelliten übertragen und von diesem zum Datenverarbeitungszentrum in Toulouse weitergeleitet.

Insgesamt wurden 26 Versuche zum Aufbau der optischen Verbindung unternommen, die alle erfolgreich verliefen. In keinem Fall brach die Verbindung vor dem geplanten Zeitpunkt ab. Die Übertragungsgüte war nahezu vollkommen: Die gemessene Bitfehlerrate betrug 1:109, was bedeutet, das von 1 Milliarde gesendeten Bits nur eines fehlerhaft empfangen wurde.

Ionenantrieb als Retter in der Not
Im Vergleich zu dem hektischen Betrieb in den Tagen unmittelbar nach dem Start, in denen ARTEMIS möglichst rasch auf eine sichere Parkbahn befördert werden mußte, war es nicht leicht, sich an den langsamen Anstieg mit dem Ionenantrieb zu gewöhnen, und Außenseitern mag diese Phase als monoton und langweilig erschienen sein. Ganz anders empfanden dies die Techniker und Ingenieure, die für die Aufrechterhaltung einer gleichmäßigen Steiggeschwindigkeit verantwortlich waren.

Ab Februar 2002, als das neue Lageregelungsverfahren zum Einsatz kam und die Ionentriebwerke den Satelliten mit fast unmerklichem Schub emporzuhieven begannen, standen sie ständig unter hohem Arbeitsdruck. Fast jede Woche brachte neue Probleme mit sich, die zwar meist nur kleinere Anomalien betrafen, aber geklärt werden mußten und manchmal auch eine Schubunterbrechung zur Folge hatten.

Neben der sorgfältigen Überwachung und Optimierung der Leistung der Ionentriebwerke erprobten die Satellitenlotsen auch verschiedene Lageregelungstechniken, um ARTEMIS so auszurichten, daß der Impuls der Ionentriebwerke so effizient wie möglich genutzt werden konnte. Die Planung und Steuerung des Satellitenbetriebs einschließlich der regelmäßigen Feineinstellung kritischer Parameter und das Management der Bodenstationskontakte stellten eine ständige Herausforderung dar.

Im Oktober ließ ARTEMIS die dritte und letzte Eklipsenperiode seit dem Start hinter sich. Während der Eklipse verbirgt der Erdschatten die Sonne während zwei Stunden pro Umlauf, in denen der Satellit aus Gründen der Energieversorgung und Lageregelung auf die Erde ausgerichtet und der Ionenantrieb abgeschaltet werden muß. Diese Manöver kosteten Zeit und Arbeit.

Endanflug
Nachdem sie all diese Schwierigkeiten gemeistert hatten, mußten die Satellitenlotsen sich auf die Planung für die Positionierung des Satelliten auf der geostationären Bahn und für seinen anfänglichen Einsatz konzentrieren.

Auf Höhen, die nur wenige hundert Kilometer unter dem geostationären Ring liegen, dauert es mehrere Wochen, bis der Satellit einmal um die Erde gedriftet ist. Um das Ziel nicht zu verpassen, muß die Driftgeschwindigkeit deshalb so eingestellt werden, daß der Satellit auf dem anvisierten Längengrad (21,5° Ost) genau dann ankommt, wenn er die geostationäre Höhe erreicht.

Die erforderlichen Bahnanpassungen wurden unter Verwendung kleiner chemischer Triebwerke vorgenommen, die erstmals seit dem Start gezündet wurden. Das erste Manöver fand im Dezember 2002 statt, dem im Januar 2003 zwei weitere folgten. So wurde die Driftgeschwindigkeit auf einige Grad pro Tag gedrosselt, als der Satellit seinen letzten Durchgang über Europa absolvierte und schließlich seine Einsatzposition in der geostationären Bahn einnahm.

Nach dem letzten Manöver am 31. Januar war die Freude groß. Aus seiner für den Ionenantrieb optimalen Fluglage konnte der Satellit nun für den normalen Betrieb zur Erde ausgerichtet werden, und der Ionenantrieb wurde als Retter in der Not gefeiert. Endlich konnten auch die Satellitenlotsen das für die Steuerung des Satelliten eingesetzte weltweite Bodenstationsnetz für andere Aufgaben freigeben.

Jetzt, da ARTEMIS am Ziel angelangt ist, wird er den geplanten zehnjährigen Betrieb aufnehmen, für den er noch über einen ausreichenden Vorrat an chemischem Treibstoff verfügt.

Auf die Inbetriebnahme von ARTEMIS wartet bereits ein breiter Kreis von Nutzern. In den ersten Wochen auf der Einsatzbahn wurden seine Nutzlasten von der für die orbitale Erprobung zuständigen Einrichtung in Redu (Belgien) eingehenden Funktionsprüfungen unterzogen, die ergaben, daß sämtliche Nutzlasten einwandfrei arbeiten. Dabei wurde erneut eine optische Verbindung mit SPOT-4 hergestellt.

Der Satellit kann nun für seine ersten Nutzer eingesetzt werden: SPOT-4, ENVISAT, EGNOS und EUTELSAT/Telespazio. Ein vorbereitender Versuch soll außerdem mit dem japanischen Erdbeobachtungssatelliten ADEOS-II der NASDA unternommen werden. Künftig soll ARTEMIS auch als Relaisstation für das Automatische Transferfahrzeug der ESA und die Columbus-Elemente der Internationalen Raumstation dienen.

Nach seiner Rettung, in deren Verlauf ARTEMIS eine Reihe technischer Pionierleistungen – erste optische Relaisverbindung zwischen Satelliten, erste umfassende Umprogrammierung eines Nachrichtensatelliten, erster Transfer auf den geostationären Orbit mittels Ionenantrieb, bisher längste planmäßige Driftphase eines Satelliten – vollbrachte, steht er nun zur Erprobung grundlegender Technologien und zur Förderung künftiger europäischer Datenrelaisdienste zur Verfügung. Eine vielversprechende Zukunft für diese unglaubliche Mission!

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