Der Start von ENVISAT am 1. März 2002 um 02:07:59 Uhr (MEZ) verlief zur Erleichterung aller Projektbeteiligten reibungslos. Lesen Sie hier eine Zusammenfassung der auf den Start folgenden Schritte.
Ein Beitrag von Michael Stein. Quelle: ESA.
Da der Satellit einen sonnensynchronen polaren Orbit einnehmen sollte, flog die Ariane 5-Rakete nach dem Start mit der schwersten bisher von einer Ariane-Rakete transportierten Nutzlast erstmalig Richtung Norden gen Himmel. Eine auch nur geringfügige Verschiebung des Starttermins wäre nicht möglich gewesen, da der für ENVISAT vorgesehene Orbit genau mit den Umlaufbahnen der bereits aktiven Erdbeobachtungssatelliten – die ebenfalls auf polaren Orbits fliegen – abgestimmt ist: Im Falle technischer Probleme hätte der Start gleich um 24 Stunden verschoben werden müssen.
Der erste erleichterte Applaus im Jupiter-Kontrollraum des europäischen Weltraumbahnhofs Kourou brandete dann um 02:34 Uhr (MEZ) auf, als vom ESA-Kontrollzentrum ESOC („European Space Operation Center“) in Darmstadt die erfolgreiche Trennung des Satelliten von der obersten Raketenstufe bestätigt wurde. Dieses erste Signal von ENVISAT wurde von den Bodenstationen Svalbard (Norwegen) und Pokerflat (Kanada) empfangen. Ein zweites Mal war Erleichterung und natürlich auch große Freude bei den Beobachtern vor Ort zu spüren, als ESOC um 03:16 Uhr (MEZ) meldete, dass das 70 m2 große Solarpaneel des Satelliten vollständig ausgefahren und die automatische Lagekontrollsteuerung des Satelliten aktiviert worden war. Um 04:43 Uhr (MEZ) schließlich begann das Solarpaneel automatisch der Sonne zu folgen und 8.000 Watt Strom zu generieren, so dass ab diesem Zeitpunkt die Versorgung der Systeme an Bord des Satelliten mit Energie sicher gestellt war.
In den ersten Tagen nach dem Start erfolgen notwendige Anpassungen der Flugbahn des Satelliten. Nach etwa zwei Tagen beginnt das Ausklappen des unter dem „Bauch“ von ENVISAT angebrachten ASAR-Radars sowie – fünf Tage nach dem Start – das Aufrichten der für die Datenkommunikation zuständigen Ka-Band-Antenne. Gut eine Woche nach dem Abheben der Ariane 5 von Kourou werden nach und nach die wissenschaftlichen Instrumente an Bord eingeschaltet und auf ihre Funktionstüchtigkeit hin überprüft, was einen Zeitraum von etwa sechs Wochen in Anspruch nehmen wird.
Die Kalibrierungsphase
Nachdem die Funktionstüchtigkeit des Satelliten festgestellt worden ist, beginnt die Eichung und Kalibrierung der wissenschaftlichen Messinstrumente. Für diesen Prozess sind sechs Monate veranschlagt, so dass ab Herbst 2002 die ersten validierten Daten an über 700 Wissenschaftler allein in Europa geliefert werden können. Die ESA misst der Kalibrierungsphase eine sehr hohe Bedeutung bei, denn erst wenn für jedes Instrument die tatsächlich erzielbare Messgenauigkeit sowie die Höhe der unvermeidbaren Messfehler bekannt sind, bekommen die gelieferten Daten einen wissenschaftlichen Wert. Zu diesem Zweck wird ein erheblicher Aufwand getrieben: So werden Vergleichsmessungen von Höhenballons, Forschungsflugzeugen, Messbojen und stationären Anlagen an Land herangezogen, um die Genauigkeit der von ENVISAT gelieferten Daten zuverlässig abschätzen zu können. Auch mit Daten der 1991 bzw. 1995 gestarteten europäischen Erdbeobachtungssatelliten ERS-1 und ERS-2 werden die ENVISAT-Messwerte während der Kalibrierungsphase zu diesem Zweck abgeglichen.
Während der dann folgenden Betriebsphase von ENVISAT werden ebenfalls immer wieder Vergleichsmessungen durchgeführt werden, um die Güte der Messergebnisse während der gesamten Missionsdauer beurteilen und eventuell im Zeitablauf sich verändernde Messfehler erkennen zu können.
Unmittelbar nach dem Start übernimmt das ESA-Kontrollzentrum ESOC in Darmstadt die Kontrolle des Satelliten. Während der gesamten Lebensdauer von ENVISAT wird der Satellit von hier aus überwacht und gesteuert. Die zuständigen ESOC-Mitarbeiter gehen davon aus, dass etwa alle zehn Tage eine Kurskorrektur erforderlich sein wird, da die Flugbahn durch die selbst in 800 km Höhe noch vorhandenen äußersten Ausläufer der Erdatmosphäre sowie durch den Sonnenwind ständig beeinflusst wird.
Die von ENVISAT gesammelten wissenschaftlichen Messwerte werden zunächst im 160 GBit großen Zwischenspeicher an Bord gepuffert, bis sie über zwei jeweils 100 MBit/Sek. schnelle Funkverbindungen zu den ESA-Bodenstationen in Kiruna (Schweden) und Fucion (Italien) übermittelt werden, was bei jedem Umlauf geschieht. Da die Bodenstationen jedesmal nur für etwa zehn Minuten in Sichtweite des Satelliten sein werden, ist der im Sommer 2001 gestartete europäische Kommunikationssatellit ARTEMIS für die Datenübertragung von großer Bedeutung. In seiner geostationären Umlaufbahn steht er scheinbar fest über dem europäischen Kontinent und kann fast eine drei Viertel Stunde je ENVISAT-Orbit Daten von dem Erdbeobachtungssatelliten als Relaisstation zur Erde übertragen, wenn ENVISAT aufgrund seiner niedrigen Umlaufbahn schon längst keine Verbindung mehr zu den beiden Bodenstationen der ESA hat.
Außer den beiden zuvor genannten Bodenstationen können Forschungsinstitute auch von beliebigen anderen Bodenstationen aus ENVISAT-Daten abgreifen, sofern diese technisch dazu in der Lage sind und der Zugriff auf die Messwerte von der ESA genehmigt worden ist.
Sämtliche wissenschaftlichen Daten von den Instrumenten an Bord des Satelliten laufen bei ESRIN („European Space Research Institute“) in Frascati bei Rom zusammen. Dort werden die Daten in vier verschiedenen Qualitätsstufen aufbereitet, was zwischen weniger als drei Stunden und mehr als einen Monat in Anspruch nimmt. Danach erfolgt die Verteilung auf sechs so genannte PACs („Processing and Archiving Facility“) in verschiedenen europäischen Ländern, wo eine weitere Verarbeitung sowie Archivierung der wissenschaftlichen Daten erfolgt. Das deutsche Bearbeitungs- und Archivierungszentrum D-PAC ist beim „Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt“ (DLR) in Oberpfaffenhofen bei München angesiedelt. Die PACs sind schließlich auch für die Verteilung der wissenschaftlichen Daten an die verschiedenen Forschergruppen verantwortlich. Dies geschieht zum Selbstkostenpreis, sofern sich die Nutzer dazu verpflichten, die Daten für wissenschaftliche Zwecke einzusetzen und ihre Forschungsergebnisse zu veröffentlichen.
Daneben sind von der ESA zwei Unternehmenskonsortien in Italien und Frankreich mit der kommerziellen Datenverwertung beauftragt. So könnten ENVISAT-Daten der Ozeane beispielsweise für die Schifffahrt von Bedeutung sein, um mit ihrer Hilfe Gebiete mit starkem Seegang oder Eisbildung zu umfahren. Allerdings wird von der kommerziellen Verwertung in Relation zu den Gesamtkosten der Mission nur ein marginaler Erlös erwartet, wie DLR-Vorstand Prof. Achim Bachem gegenüber In Space sagte.
Die Lebensdauer des Satelliten ist von den Herstellerfirmen mit fünf Jahren angegeben; die garantierte Lebensdauer von anderen Erdbeobachtungssatelliten wurde in der Vergangenheit allerdings regelmäßig deutlich übertroffen, weshalb die am Projekt beteiligten Wissenschaftler auf eine knapp zehnjährige Nutzungsdauer spekulieren. Eine Verlängerung der Nutzungsdauer durch Wartungsmissionen wie beim Weltraumteleskop Hubble ist nicht möglich, da der Satellit hierfür vor allem aus zwei Gründen von Beginn an nicht ausgelegt worden ist.
Zum einen kann ein Space Shuttle einen Satelliten, der sich auf einer polaren Umlaufbahn um die Erde bewegt, schlicht nicht erreichen, da es nicht über die hierzu erforderliche Antriebskraft verfügt. Doch selbst wenn diese Bedingung erfüllt wäre: Die Umlaufbahn von ENVISAT führt den Satelliten über die beiden Polregionen der Erde, wo der so genannte Van-Allen-Gürtel mit seiner extrem hohen Strahlenbelastung bis in die Höhe der ENVISAT-Umlaufbahn reicht – kein Astronaut würde ohne gesundheitliche Schäden einen Flug durch diese Bereiche überstehen.
ENVISAT und seine Nachfolger
Die Bündelung derartig großer finanzieller, technologischer und intellektueller Ressourcen in nur einem Satelliten wie bei ENVISAT ist natürlich ein exorbitant riskantes Unterfangen. Den Synergieeffekten zwischen den verschiedenen Instrumenten an Bord des Satelliten sowie den Einsparungen aufgrund der Tatsache, dass diese Vielzahl von wissenschaftlichen Instrumenten mit nur einem Start in den Orbit befördert werden, stehen natürlich die enormen Folgen gegenüber, die ein Fehlstart nach sich ziehen würde.
Die vier kleinen Cluster-Satelliten zur Erforschung der Wechselwirkungen des Sonnenwindes mit der Erdmagnetosphäre beispielsweise konnten nach ihrem Verlust beim fehlgeschlagenen Erststart der Ariane 5 im Juni 1996 ersetzt werden. Bei einem Projekt in der Größenordnung von ENVISAT hingegen, das de facto nicht versicherbar ist, wäre das unmöglich. Aufgrund der enormen wissenschaftlichen Ausbeute, die von den zehn Instrumenten des Satelliten erwartet wird, werden hunderte von Forscherteams an der Datenauswertung beteiligt sein. Viele Projektbeteiligte haben schon über zehn Jahre Arbeit in die Vorbereitung dieser außerordentlichen Forschungsmission investiert, und die Folgen eines Fehlstarts wären gleichermaßen außerordentlich gewesen. So ist es zum Beispiel durchaus üblich, Wissenschaftler nicht dauerhaft, sondern projektbezogen anzustellen. Wäre der Start von ENVISAT gescheitert, so hätte dies somit auch unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeitsplätze vieler Forscher gehabt.
Wie Prof. Achim Bachem im Gespräch mit In Space im Rahmen der Pressekonferenz des „Bundesministeriums für Bildung und Forschung“ zum ENVISAT-Start am 25.02.2002 in Berlin mitteilte, sind für die Zukunft kleinere und stärker spezialisierte Erdbeobachtungssatelliten geplant. So hat die EU-Ministerratskonferenz in Edinburgh im letzten Oktober die Finanzierung für die beiden Programme EOEP („Earth Observation Envelope Programme“) und EOEP-2 beschlossen. Im Rahmen dieser Programme sind bereits Missionen wie Cryosat, GOCE und SMOS in der Planungsphase, die sich jeweils auf wenige Aspekte der Erdbeobachtung konzentrieren. Die zweite Phase dieser Programme sieht für den Zeitraum von 2003 bis 2007 Finanzmittel in Höhe von 926 Mio. Euro vor. Mit diesen Geldern soll dann der Start eines Erdbeobachtungssatelliten pro Jahr ermöglicht werden.
Somit bleibt ENVISAT mit seinen beeindruckenden Dimensionen auf absehbare Zeit „der Letzte seiner Art“. Er wird unser Wissen um die Ökosphäre unseres Planeten mit Sicherheit einen großen Schritt nach vorne bringen. Was wir dann mit diesem Mehr an Wissen anfangen, das wird nicht mehr Sache der Wissenschaft sein.