Der größte europäische Erdbeobachtungssatellit befindet sich acht Jahre nach seinem Start noch im Einsatz und ist in der Lage, Weltraumschrott auszuweichen.
Ein Beitrag von Thomas Weyrauch. Quelle: ESA, Space News.
Zuletzt fand im Januar 2010 ein vom Boden initiiertes Ausweichmanöver statt, um eine Kollision mit der Oberstufe einer chinesischen Trägerrakete zu vermeiden. Nachträglich angestellte Analysen kamen zu dem Schluss, dass die Oberstufe und der Erdbeobachtungssatellit mit einer Masse von über acht Tonnen zusammengestoßen wären, hätte kein Ausweichmanöver stattgefunden. Dieses war kontrolliert vom europäischen Zentrum für Weltraumoperationen (European Space Operations Centre, ESOC) in Darmstadt durchgeführt worden, nachdem die US-amerikanische Weltraumüberwachung die europäische Weltraumagentur (European Space Agency, ESA) vor dem möglichen Zusammenstoß der beiden Himmelskörper gewarnt hatte.
Bis 2013 soll Envisat seine Aufgaben noch erfüllen können. Die ursprünglich auf fünf Jahre angesetzte Mission des Satelliten ist auf elf Jahre ausgedehnt worden. Nach Missionsende wird es voraussichtlich rund 150 Jahre dauern, bis Envisat von seiner fast polaren Umlaufbahn in etwas über 780 Kilometern über der Erdoberfläche bis in die oberen Schichten der Erdatmosphäre abgestiegen ist und beim Wiedereintritt in dieselbe zerstört wird.
Im Rahmen des 38. Kongresses des Komitees für Weltraumforschung (Committee on Space Research, Cospar) im Juli 2010 in Bremen wurde diskutiert, welche Gefahren vom größten jemals ins All gebrachten nichtmilitärischen Erdbeobachtungssatelliten ausgehen würden, wenn dieser seinen Einsatz beendet hat und deaktiviert wurde. Dann nämlich kann Envisat Objekten auf Kollisionskurs nicht mehr ausweichen, und Kollisionen wären möglich, wenn das anfliegende Objekt ebenfalls keine Kapazität für Bahnmanöver mehr besitzt.
Dr. Heiner Klinkrad, Leiter des Space Debris Büros der ESA, hat nach Informationen von Space News die Vermutung geäußert, dass, wäre Envisat mit der chinesischen Raketenoberstufe zusammengestoßen, intensiv genutzte Regionen niedriger Erdumlaufbahnen mit zehnmal mehr Weltraumschrott verschmutzt worden wären, als beim Zusammenstoß eines US-amerikanischen Iridium-Satelliten mit einem inaktiven russischen Raumfahrzeug im Jahr 2009 entstanden ist. Die Kollision am 10. Februar 2009 fand in einer Flughöhe statt, die der von Envisat ähnelt.
Während der vermutlich rund 150 Jahre, die Envisat weiter um die Erde kreisen wird, könnte es mit einer Wahrscheinlichkeit zwischen 15 und 30 Prozent zu einem Zusammenstoß mit einem anderen Stück Weltraumschrott kommen, heißt es in den Space News. Diese Einschätzung basiert auf der derzeitigen Population niedriger Erdumlaufbahnen. Da von einer Zunahme von Objekten auf diesen Bahnen ausgegangen werden muss, ist die berechnete Wahrscheinlichkeit sicher eine zu optimistische.
Nach Schätzungen der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA würde es selbst dann zu einer Zunahme von Objekten in niedrigen Erdumlaufbahnen kommen, wenn die Raumfahrtnationen den Start von Satelliten einstellten. Die Zunahme resultiert aus Kollisionen der Objekte untereinander, und der vergleichsweise geringeren Anzahl von Objekten, die beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre verglühen.
Aufgrund der in Relation zur Gesamtmasse Envisats geringen Menge mitgeführten Treibstoffs wird es nicht möglich sein, den Erdbeobachtungssatelliten nach Beendigung seines Einsatzes gezielt in die Erdatmosphäre eintreten zu lassen. Für die Verringerung von Envisats Flughöhe um einen Kilometer rechnet man mit einem Treibstoffbedarf von rund 2 Kilogramm. 314 Kilogramm Treibstoff für Bahnmanöver und Lageregelung befanden sich beim Start des Satelliten an Bord, von denen noch etwa 80 geschätzte Kilogramm übrig sind. Einen Teil davon will man im Oktober 2010 verwenden, um Envisats Bahn von rund 799,8 Kilometern über der Erde auf 782,4 Kilometer abzusenken. Zwischen 37 und 44 Kilogramm Treibstoff werden danach noch zur Verfügung stehen, wird angenommen. Aus Kostengründen und industriepolitischen Erwägungen war der Satellit mit einem Treibstofftank ausgerüstet worden, wie ihn der französische Erdbeobachtungssatellit Spot 4, der eine um mehr als die Hälfte geringere Masse als Envisat aufweist, besitzt. Als Envisat entworfen wurde, waren entsprechende Regularien zur Beseitigung von Weltraumschrott noch nicht in Kraft.
Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht auch darin, dass Envisat aufgrund seiner Masse beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre wahrscheinlich nicht vollständig zerstört würde. Um zu vermeiden, dass größere Bruchstücke auf bewohnte Gebiete fallen, wäre ein Wiedereintritt zu einem bestimmten Zeitpunkt über einem bestimmten Gebiet, zum Beispiel über dem Südpazifik, erforderlich. Laut Jürgen Starke von Astrium Space Transportation, welche für die ESA Verfahren zur Beseitigung von Weltraumschrott untersucht, ist zur Zeit nicht sicher, ob es möglicherweise nicht sinnvoller wäre, die Bahn von Envisat nach dessen Einsatzende auf eine sicherere Flughöhe anzuheben. Die ESA wird sich kurzfristig kaum auf eine der beiden Möglichkeiten festlegen. Beide Varianten erfordern hohen finanziellen Einsatz. Starke schätzt nach Angaben der Space News, dass für eine entsprechende Mission und deren Start Kosten von mehreren hundert Millionen Euro anfallen.
Envisat ist katalogisiert mit der NORAD-Nr. 27386 bzw. als Objekt 2002-009A.
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