Russlands Raumfahrt sucht Weg aus dem historischen Tief. Ein Beitrag von Gerhard Kowalski.
Quellen: GK Roskosmos, ZPK, NASA, TASS, RIA Nowosti.
Moskau, 2. Januar 2023 – Russlands Raumfahrt geht 2023 mit einem historischen Tief an den Start. In aller Offenheit hat der Generaldirektor der GK Roskosmos, Juri Borissow, kurz vor dem Jahreswechsel eingestanden, dass fast alle führenden Unternehmen der einstigen Vorzeigebranche 2021 und 2022 die Planvorgaben nicht erfüllt haben. Der Schuldenberg werde wohl von 31 Milliarden Rubel 2021 auf inzwischen 50 Milliarden angewachsen sein. Die genaue Zahl liege noch nicht vor. Die Betriebe haben zwar ihr Geld pünktlich erhalten, aber nicht geliefert, sagte er.
Als Grund dafür nannte Borissow nicht zuletzt „die Situation, wie sie sich nach dem 24. Februar ergeben hat“, im Klartext also mit dem Beginn des Überfalls auf die Ukraine. Dadurch seien eine Reihe internationaler Verträge weggebrochen, so über die Lieferung von Raketentriebwerken und über Startdienstleistungen. Als einziges Positivum konnte der Manager wenigstens vermelden, dass man auch im abgelaufenen Jahr alle Starts – lediglich 22 an der Zahl – fehlerfrei über die Bühne gebracht habe. Damit habe man jetzt in den letzten vier Jahren 98 Starts in Folge ohne Havarie zu verzeichnen, was quasi als Weltrekord gelten könne. Möglich geworden sei das vor allem durch ein neues Qualitätskontrollsystem. Zudem habe man rund ein Viertel der Führungskräfte ausgetauscht.
Diesen Weg will Borissow im laufenden Jahr durch die Schaffung der Voraussetzungen für den konsequenten Übergang der Branche zu einem „neuen industriellen Produktionsmodell“ etwa von „Sfera“-Nachrichten- und Fernerkundungssatelliten und ein neues Finanzierungssystem weitergehen. Derzeit baue Russland lediglich 15 Satelliten pro Jahr, sagte er. Diese Zahl solle schrittweise auf einen Satelliten pro Tag ansteigen. Bereits 2025-26 hoffe er, auf 200 bis 250 pro Jahr zu kommen. Das wolle man auch durch die stärkere Einbeziehung privaten Kapitals erreichen.
Völlig unklar ist jedoch, woher man die Mikrochips für die Serienproduktion nehmen will. Russland arbeitet zwar schon seit geraumer Zeit an einer eigenen Fertigung, ist aber damit noch nicht sehr weit gekommen. Und das westliche Embargo hat die Einfuhr rigoros abgeschnitten. Nicht umsonst klagte der Manager jüngst, man habe zwar Trägerraketen, aber nichts, was man mit ihnen in den Weltraum schießen könne. Für Abhilfe soll hier auch die verstärkte Kooperation mit China sorgen, die in einer gemeinsamen wissenschaftlichen Mondstation gipfelt, die in zwei Etappen von 2025 bis 2035 entstehen soll.
Apropos Mond. Dieses Wort spielt eine zentrale Rolle in den Moskauer Raumfahrtplänen für dieses Jahr. Man will nämlich nach 1976 wieder einmal eine automatische Sonde zum Erdtrabanten schicken. Das Startfenster für Luna-25 öffnet sich im Juli/August. Das Projekt wird von einigen aus der gebeutelten Branche als „Rückkehr Russlands zum Mond“ hochgejubelt. Für die Fachwelt allerdings ist es vor allem mit Blick auf das Artemis-Programm der Amerikaner eher ein „gewöhnliches Ereignis“, wie der Raumfahrthistoriker Alexander Shelesnjakow schrieb.
Nach der bisherigen Planung will Russland die diesjährige Startkampagne im Februar mit dem Flug des Frachters Progress MS-22 zur Internationalen Raumstation ISS eröffnen. Dann sollen im März ein ISS-Besatzungswechsel und im September mit Präsident Wladimir Putins Weihen der erste Flug einer Frau aus dem eng verbündeten Belarus stattfinden. Doch über all dem schwebt noch wie ein Damoklesschwert das ungelöste Problem mit der Sojus MS-22-Kapsel. Niemand weiß bisher, wie das Leck im Wärmeregulierungssystem zustande gekommen und zu beheben ist und was das erst einmal für die russischen Kosmonauten selbst und im schlimmsten Fall auch für die ganze Station bedeutet. In den nächsten Tagen soll die Analyse der russischen Untersuchungskommission veröffentlicht werden. Bis dahin gilt es, die Daumen zu drücken und auf eine gangbare Lösung zu hoffen.
Übrigens ist es seit 2020 in der ISS wiederholt zu Havarien und Problemen bei den Russen wie Amerikanern gekommen, die alle glimpflich ausgingen. Moskauer Medien listeten nach der Entdeckung des Sojus-Lecks am 15. Dezember einige davon auf. Die Palette reicht dabei vom zeitweisen Ausfall der Energieversorgung im US-Segment über einen Druckverlust in der Station, die außerplanmäßige Zündung eines Triebwerkes und einen falschen Feueralarm bis hin zum Versagen eines automatischen Sojus-Annäherungssystems.
Gerhard Kowalski
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