Die Stimme zählte auf Französisch von zehn bis eins herunter und verkündete dann: „Décollage“ – Start. Die 15-jährige Zusammenarbeit zwischen der NASA, der ESA und der kanadischen Raumfahrtbehörde hatte gerade ihre kritischste Phase erreicht: den Start selbst. Die nächsten Ereignisse würden darüber entscheiden, ob das James Webb-Weltraumteleskop es ins All schaffen würde oder nicht. Eine Information der European Space Agency (ESA).
Quelle: ESA.
ESA, 19. Dezember 2022. „Am Tag des Starts war der Druck extrem hoch. Wir waren sehr zuversichtlich, dass wir erfolgreich sein würden, da wir praktisch 15 Jahre Vorbereitungszeit hatten. Aber der Druck war nach einer langen Startkampagne mit einer Reihe von technischen Problemen, die es zu lösen galt, dennoch hoch“, sagt Daniel de Chambure, Leiter des ESA-Büros in Kourou, Französisch-Guayana, und zuvor Ariane 5 – Projektmanager für Webb.
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Welt zuschaute. Die jahrelange Entwicklung und die Versprechungen hatten Webb zu einem mit Spannung erwarteten Nachfolger des Hubble-Weltraumteleskops der NASA/ESA werden lassen. Webb war für die Astronomie nichts weniger als ein „Apollo-Moment“, eine außerordentlich komplexe und ehrgeizige Mission. Die Menschheit wartete auf das nächste „große Auge am Himmel“, einen gigantischen Sprung in der Technologie, der unsere Sicht bis hin zum Anfang der Sterne und Galaxien erweitern würde.
Die Hoffnungen einer neuen Generation von Astronom*innen saßen in der Raketenspitze der von der ESA bereitgestellten Ariane 5-Rakete, die gerade in den Wolken über dem europäischen Weltraumbahnhof in Kourou, Französisch-Guayana, verschwunden war.
Der Aufstieg selbst sollte voraussichtlich etwa 30 Minuten dauern. Die Mission in Kourou war in dem Moment beendet, als die Bestätigung eintraf, dass Webb seine Solarzellen automatisch ausgefahren hatte, seinen eigenen Strom erzeugte und mit dem Team des Space Telescope Science Institute (STScI) in Baltimore, Maryland, USA, kommunizierte.
Übungen und Simulationen
Massimo Stiavelli, der das Webb-Missionsbüro in Baltimore leitet, wusste, dass viel auf dem Spiel stand: keine Solarzellen – keine Mission. In den Jahren bis zu diesem Moment hatten Massimo und das Flugbetriebsteam am STScI immer wieder geübt, was mit Webb geschehen sollte, sobald es das Weltall erreicht hatte. Diese Übungen wurden ausschließlich am Computer simuliert, so dass sie sich sehr real anfühlten. Zunächst war alles „nominal“. Das bedeutet, dass sich das Raumfahrzeug wie erwartet verhalten würde. Das kleine Team von Ingenieur*innen, das die Simulationen programmierte, begann dann, anonyme Probleme in das Ganze einzufügen, die das Flugteam diagnostizieren und korrigieren musste.
„Am schlimmsten war es bei der Übung, als die Solarzellen nicht ausgefahren wurden. Wir hatten also nur die Batterien und wussten, dass irgendwann die Energie ausgehen würde“, sagt Massimo.
Im Rahmen der Simulation hatte das Team von Massimo alles versucht. Sie hatten manuelle Befehle gesendet, um das Ausfahren anzuordnen. Als das nicht funktionierte, begannen sie „eine Reihe von Tanzbewegungen“, bei denen sie das Raumfahrzeug schüttelten, um die Solarzellen zu lösen. Als die Zeit knapp wurde und das Team alle möglichen Tricks ausprobiert hatte, spielte die Simulation schließlich mit, und die Solarzellen wurden ausgefahren.
„Das war ziemlich stressig und etwas, das wir im echten Leben nicht ausprobieren wollten“, sagt Massimo.
Doch bevor die Flugtechniker die Arbeit übernahmen, mussten Daniel und sein Team ihr Versprechen einlösen, Webb sicher in die Erdumlaufbahn zu bringen.
Die extreme Präzision des Starts
Der Tag begann früh. Daniel wachte an diesem Weihnachtsmorgen um 04:00 Uhr auf und machte sich auf den Weg zur Arbeit, wo er sicherstellte, dass mit der Trägerrakete auf der Rampe noch alles im grünen Bereich war. Eineinhalb Stunden vor dem Start betrat er den Hauptkontrollraum und überwachte die Ausführung der letzten Aufgaben vor dem Start. Diese letzten Vorbereitungen müssen in der Regel vierzig Minuten vor dem Start abgeschlossen sein. Dann wartet das Team.
„Man wird ein bisschen nervös, weil man warten muss“, sagt er. Zur Ablenkung traf er sich mit den Medien, um deren Fragen zu beantworten. Sieben Minuten vor dem Start kehrte er dann in den Kontrollraum zurück, als der letzte Countdown begann.
In dieser Phase lief alles automatisch ab. Das Flugbetriebsteam widmete seine ganze Aufmerksamkeit der Überwachung des Zustands der Trägerrakete – immer bereit zum Abbruch, falls etwas schief gehen sollte. In den letzten Sekunden erfolgte die Zündung: zuerst das Haupttriebwerk, dann sieben Sekunden später die Booster.
Die Rakete verließ die Rampe. Die Operatoren überwachten weiterhin die Telemetriedaten, die von der Trägerrakete zurückgeschickt wurden, und achteten auf jede noch so kleine Abweichung von den Prognosen.
Das Team verfolgte den Aufstieg und seine verschiedenen Etappen. Zunächst wurden die Booster abgetrennt, dann öffnete sich die Verkleidung in zwei Hälften, um Webb in 110 km Höhe freizulegen. Anschließend wurde die erste Raketenstufe abgetrennt, die zweite Stufe gezündet und später abgeschaltet. Schließlich löste sich Webb in einer Höhe von 1400 km von der Ariane. Die Kamera auf der Rakete beobachtete, wie das Weltraumteleskop wegtrieb und dabei seine Flugbahn anpasste. Als Webb ein paar Minuten später genau auf seinem Kurs war, entfaltete das Teleskop automatisch seine Solarzellen und begann, mit Massimos Team in Baltimore zu kommunizieren. Daniel und sein Team hatten ihre Arbeit erledigt.
Aber ganz so war es nicht.
Man hatte angenommen, dass in den wenigen Minuten, die Webb für die Berechnung und Ausführung seines Flugmanövers benötigen würde, das Weltraumteleskop außer Sichtweite der Raketenkamera treiben würde und die Entfaltung der Solarzellen unerkannt erfolgen würde. Schon 70 Sekunden nach der Trennung entfalteten sich jedoch die Solarzellen.
In Kourou war der Grund dafür offensichtlich. Der Start der Ariane war so präzise, dass das Manöver zur Lageregelung überflüssig war. Die Bordsoftware von Webb erkannte das und ging zur nächsten Aufgabe auf der Liste über, nämlich dem Ausfahren der Solarzellen und der Kontaktaufnahme mit Baltimore. Es war eine verblüffende Bestätigung für die Präzision des Starts.
„Ich erinnere mich noch an die Reaktionen der verschiedenen Kolleg*innen der ESA und NASA um mich herum, als es passierte. Alle waren hocherfreut“, sagt Daniel.
Spezielle Anpassungen
Die extreme Präzision der Startinjektion bei der Trennung war das Ergebnis einiger zusätzlicher Maßnahmen, die das Team in Kourou ergriffen hatte. Zunächst entschied man sich, die Inertial Management Units (IMUs) der Trägerrakete so spät wie möglich vor dem Start zu kalibrieren. Diese Einheiten liefern Informationen über die Bewegung der Rakete und fließen in die bordseitigen Berechnungen zur Steuerung der Lenksysteme ein. Dank der sorgfältigen Kalibrierung wusste die Ariane 5 genau, wo sie war und wohin sie flog.
Außerdem war das Team sehr darauf bedacht, die Paarung und Ausrichtung der Beschleunigungsraketen der Oberstufe aufeinander abzustimmen, damit es nach der Zündung der Oberstufe keine Erschütterungen gab und die Flugbahn unbeeinträchtigt blieb.
Das Team hatte neben der Flugbahn auch eine weitere spezielle Anpassung vorgenommen, zum Schutz von Webb selbst. Die NASA hatte große Bedenken, dass eine Restatmosphäre in der Raketenspitze zu Luftblasen führen könnte, die im gefalteten Sonnenschild eingeschlossen werden und sich aufblähen könnten und so die empfindlichen Schichten des Sonnenschilds des Teleskops abreißen könnten. Daher hatte die ESA ein System entwickelt, das die letzten Luftmoleküle aus der Raketenspitze verdrängt, bevor die Verkleidung sich in zwei Hälften öffnet und Webb dem Vakuum des Weltraums ausgesetzt wird. „Für uns war es auch ein großer Erfolg zu sehen, dass der Restdruck deutlich unter den Anforderungen lag, nachdem mehrere Demonstrationen bei früheren Ariane 5-Flügen durchgeführt wurden“, sagt Daniel.
Die Bestätigung, dass dieses System funktioniert hatte, kam zwar erst später, als der Sonnenschutz ausgefahren wurde und sich als intakt erwies, aber die frühe Entfaltung der Solarzellen war für das Team sofort offensichtlich. Der wahre Wert der extremen Injektionsgenauigkeit der Trägerrakete wurde jedoch erst an diesem Abend deutlich, als das Team in Baltimore dem Raumfahrzeug den Befehl zu einem weiteren Manöver gab.
Massimo hatte Dienst, als sie sich auf die Zwischenkurskorrektur 1a vorbereiteten. Dies war der entscheidende zusätzliche Impuls, damit Webb erfolgreich seine vorgesehene Position in 1,5 Millionen km Entfernung von der Erde erreichen konnte. Für die Berechnung des erforderlichen Einsatzes der Raketentriebwerke wurde Webbs Flugbahn fast 12 Stunden lang verfolgt und vermessen. Dann rechnete das Flugdynamik-Team am Goddard Space Flight Center der NASA die Zahlen durch. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Ausmaß der Leistung der Ariane 5 voll und ganz sichtbar.
Die Umlaufbahn war bereits so präzise, dass der Triebwerkseinatz weit weniger lange dauern würde als erwartet. „Wir wussten schon dort, dass wir zusätzlichen Treibstoff haben würden“, sagt Massimo.
Nach dem Manöver begannen das Team wieder mit der Bahnverfolgung und den Berechnungen. Es stellte sich heraus, dass der eingesparte Treibstoff nun zum Verbleib von Webb in seiner Umlaufbahn und damit zur Verlängerung der Lebensdauer der Mission verwendet werden kann.
Doppelt so viel Wissenschaft, doppelt so viele Entdeckungen
Als die Berechnungen abgeschlossen waren, gab die NASA bekannt, dass sich dank der ESA und ihrer Partner Arianespace, ArianeGroup und CNES die Lebensdauer von Webb nun verdoppelt hat. Statt einer 10-jährigen Mission hatte Webb genug Treibstoff an Bord, um 20 Jahre lang in Betrieb zu bleiben. Doppelt so viele Beobachtungen, doppelt so viel Wissenschaft, doppelt so viele Entdeckungen.
Indem das europäische Team einen routinemäßigen Start zur Sternstunde der Ariane 5 machte, konnte es den nächsten großen Schritt der Menschheit zum Verständnis ihrer Ursprünge verdoppeln.
„Das war ein sehr schöner Moment und eine Belohnung für uns alle, insbesondere nach den zahlreichen Danksagungen, die wir vom NASA Webb Projektteam erhalten haben“, sagt Daniel.
Die Feierlichkeiten fielen damals allerdings eher verhalten aus. Die meisten Beteiligten wollten am ersten Weihnachtstag 2021 nach Hause zu ihren Familien zurückkehren. Allerdings sind die Erinnerungen an das, was sie an diesem Tag erreicht haben, immer noch präsent.
„Auf der Basis sieht man, dass die Menschen sehr stolz auf den Start von Webb sind. Man sieht sie immer noch in ihren Webb-Poloshirts“, sagt Daniel. Und in der unscheinbaren Welt des Raumfahrtbetriebs gibt es kaum ein größeres Zeichen von Stolz.
Weitere Informationen
Das Webb-Teleskop ist das größte und leistungsstärkste Teleskop, das jemals ins All geschossen wurde. Im Rahmen eines internationalen Kooperationsabkommens war die ESA für den Start des Teleskops mit der Trägerrakete Ariane 5 zuständig. In Zusammenarbeit mit ihren Partnern war die ESA für die Entwicklung und Qualifizierung der Ariane 5-Anpassungen für die Webb-Mission sowie für die Beschaffung der Startdienstleistungen durch Arianespace verantwortlich.
Die ESA stellte auch eines der Hauptinstrumente, den Spektrografen NIRSpec, und 50 % des Mittelinfrarot-Instruments MIRI zur Verfügung, das von einem Konsortium aus national finanzierten europäischen Einrichtungen (dem europäischen MIRI-Konsortium) in Zusammenarbeit mit dem Jet Propulsion Laboratory (JPL) und der Universität von Arizona entwickelt und gebaut wurde. Das Webb-Teleskop ist ein internationales Joint Venture zwischen der NASA, der ESA und der kanadischen Raumfahrtbehörde (CSA).
Diskutieren Sie mit im Raumcon-Forum: