In der Nummer 123 des Magazins Raumfahrt Concret ist ein Beitrag von Gerhard Kowalski zur Lage der Raumfahrt in Russland erschienen. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und von Raumfahrt Concret geben wir den Text des Beitrags wieder. Essay von Gerhard Kowalski.
Quelle: Raumfahrt Concret, Gerhard Kowalski.
Als am 24. Februar 2022 die ersten Meldungen der Nachrichtenagenturen vom Überfall Russlands auf die Ukraine liefen, glaubte ich meinen Ohren nicht zu trauen. Russland führt Krieg gegen ein anderes Land, der zudem bei Androhung drastischer Strafen nicht als solcher benannt werden darf?
Bis zu dem tieftraurigen Februar-Tag wähnte ich mich immer als Kenner der einstigen Sowjetunion und dann Russlands. Ich befasse mich als Journalist seit 1966 besonders intensiv mit ihnen und ihrer Raumfahrt und habe auch bis zum Flug von Sigmund Jähn 1978 als ADN-Korrespondent sechs Jahre an der Moskwa gearbeitet und gelebt. Für mich galt seither der wunderbare Text von Jewgeni Jewtuschenko: Meinst du, die Russen wollen Krieg? Natürlich nicht – nach ihren 27 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg, war meine Antwort.
Und nun das. War ich die ganze Zeit politisch so blind durch die Welt gelaufen!? Wie konnte das passieren? Waren da nicht schon der Krieg in Afghanistan von 1979 bis 1989 mit rund 13.300 toten Sowjetsoldaten und dann, 2014, die Besetzung der Krim und die Bildung der Separatisten-Volksrepubliken? Habe ich nicht die vielen Warnsignale in diese Richtung vernommen, von denen heute überall gesprochen und geschrieben wird? Doch, ich habe sie im Unterbewusstsein wahrgenommen, aber schlicht nicht ernst genommen. Denn die offizielle deutsche Politik von Willy Brandt über Helmut Kohl bis Angela Merkel war ja auch russenfreundlich. Bei mir haben nie irgendwelche Alarmglocken geschrillt – leider, muss ich heute einräumen.
Inzwischen bin ich jäh in der neuen Wirklichkeit angekommen und quäle mich mit der Frage herum, wie gerade die Russen einen solchen Krieg vom Zaun brechen konnten, den man bei uns im Westen gern explizit als den Krieg Putins bezeichnet. Doch täuschen wir uns nicht: Gut drei Viertel der Bevölkerung stehen mehr oder weniger fest hinter ihrem Präsidenten. Die Russen waren schon immer obrigkeitsgläubig – ob der Herrscher im Kreml nun Zar, Generalsekretär oder Präsident heißt. Und Putin geht zudem mit eiserner Faust gegen jegliche Opposition vor. Natürlich weiß auch ich, dass der Westen in seiner Russland-Politik große Fehler gemacht hat. Aber daraus das Recht auf einen „provozierten Krieg“ abzuleiten, wie es auch einige meiner deutschen Zeitgenossen jetzt tun, geht auf keinen Fall.
Die Antwort des Westens auf den Krieg waren umfassende Sanktionen, die Putins ohnehin schwache Wirtschaft empfindlich treffen sollten. Wie wir aber bald merkten, haben sie in Teilen, etwa bei der Gasversorgung, auch verheerende Rückwirkungen auf uns selbst. In Deutschland sorgen sie inzwischen sogar für Energie-Notstandsprogramme, gesellschaftliche Unruhe und Existenzängste. Zudem froren die US-Luft- und Raumfahrtbehörde NASA, die Europäische Weltraumorganisation ESA, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und andere westliche Partner ihre Zusammenarbeit mit den Russen mit Ausnahme der Internationalen Raumstation ISS ein. Die sind nun allein auf sich gestellt, bemühen sich deshalb um die Verstärkung ihrer traditionellen Beziehungen etwa zu China und Indien und werben um neue Partner in der ganzen Welt, speziell auch im arabischen Raum.
Rogosin leitet Umbau der Raumfahrt für den Krieg ein
Der bisherige Chef der russischen Raumfahrtbehörde GK Roskosmos, Dmitri Rogosin, hat als einer der engsten und wichtigsten Gefolgsleute Putins unverzüglich mit der Umstellung der Raumfahrt auf diesen Krieg begonnen. Die Losung für die rund 200.000 Mitarbeiter der Branche sei jetzt „Alles für die Front, alles für den Sieg“, rief er am 2. Juni auf einer Bilanzkonferenz aus. Die GK Roskosmos verfüge über „kolossale Technologien, die in direkten Beziehungen zu den Kriegen der neuen Generation stehen“. Diese müssten jetzt voll für die russischen Streitkräfte mobilisiert werden.
Als erste Maßnahme beantragte Rogosin bei der Regierung, dem Ausbau der zivilen und dualen Satellitenflotte, die bisher aus lediglich etwas mehr als 160 Apparaten besteht, mit Blick auf die „im Februar 2022 entstandene geopolitische Lage“ absoluten finanziellen Vorrang einzuräumen. Damit soll praktisch der weitaus überlegeneren westlichen Weltraumaufklärung begegnet werden. Ziel sei zumindest die „zahlenmäßige Verdopplung der Orbitalgruppierung“, wie das die Russen nennen. Die Entwicklung neuer Raketentriebwerke und Raketen wurden dadurch auf den zweiten und dritten Rang zurückgestuft. Die Crux dabei ist, dass Russland wegen der Sanktionen keinen Zugriff mehr auf die dafür erforderliche westliche Mikroelektronik hat. Rogosin kleidete das in den Satz: Wir haben zwar Trägerraketen, aber keine Satelliten, die sie ins All schießen können. Deshalb soll die eigene noch schwache mikroelektronische Basis schnell ausgebaut werden, um vor allem auch das Sfera-Erderkundungssatelliten-Programm zu puschen.
Als besonderes atomares Faustpfand sah Rogosin zudem die neue russische Interkontinentalrakete Sarmat an, deren Serienproduktion bei der GK Roskosmos begonnen hat. Sie übertreffe in allen technischen Parametern ihre westlichen Pendants, behauptete er. Sie sei der „große Gleichmacher“, der allerdings nur dann zum Einsatz komme, wenn die „Souveränität oder das Leben“ Russlands in Gefahr seien. Die Rakete, die einen 10-Tonnen-Sprengkopf an jeden Ort der Erde tragen können soll, sei neben der Topol und Iskander ein Schlüsselelement der Verteidigungsindustrie. Diese Arbeit werde man operativ ausbauen, um jene Arsenale der Streitkräfte aufzufüllen, mit denen Kommandopunkte sowie Ansammlungen von Truppen, Waffen und Militärtechnik des Feindes vernichtet werden können. Die Schritte dahin seien bereits „bis zur letzten Schraube“ durchgerechnet worden. Zugleich verkündete Rogosin, dass das Logo seiner Organisation zum 77. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland (9. Mai 2022) durch einen großen roten fünfzackigen Sowjetstern ergänzt wurde. Damit unterstütze man auch die Streitkräfte der Russischen Föderation.
Kosmonauten posen für den Krieg
Eine gewisse Zeit schien es, als wollten die Russen den Ukraine-Krieg von der ISS fernhalten. Auf Pressekonferenzen im Sternenstädtchen bei Moskau und in der Berichterstattung aus der Station selbst wurde er anfangs nicht erwähnt. Die gleichgeschalteten russischen Medien hielten sich offensichtlich artig an die Vorgaben „von oben“. Doch am 3. Juni änderte sich das. Da prangten auf dem Kosmodrom Baikonur (Kasachstan) auf der Nutzlastverkleidung des Frachters Progress MS-20 die Flaggen von Luhansk und Donezk und auf der Sojus-Trägerrakete die Inschrift Donbass. Zudem waren Kinder aus den genannten Regionen zum Start eingeladen worden. Normalerweise tragen die schmucklosen russischen Raumschiffe und Raketen ja nur Seriennummern. Doch diesmal hatte man sich „zu Ehren“ der Spezialoperation in der Ukraine etwas Besonderes einfallen lassen.
Was damals noch niemand ahnte: An Bord des Frachters befanden sich auch die Flaggen von Luhansk und Donezk. Die sind dann erst am 4. Juli im russischen ISS-Segment von den Kosmonauten Oleg Artemjew, Sergej Korssakow und Denis Matwejew enthüllt worden. Damit war auch für mich der Krieg in der ISS angekommen. Wie Rogosin dazu erklärte, hätten die GK Roskosmos und die drei Männer mit dieser Aktion der Republik Luhansk zur „Befreiung“ durch die russischen Truppen gratuliert, die Verteidigungsminister Sergej Schoigu Präsident Putin am selben Tag verkündet habe. Später wurde dann nachgeschoben, dass die Kosmonauten, die sich bis dato nicht expressis verbis zu dem Krieg geäußert hatten, die Politik des Landes „immer unterstützen“. Das gelte insbesondere für Artemjew, der Abgeordneter der Moskauer Stadtduma und zudem Sonderkorrespondent der staatlichen Nachrichtenagentur TASS in der Station sei. (Der außerirdische Medienposten war im November 2021 eingerichtet worden). Das Trio meldete sich dann noch einmal höchstpersönlich zu Wort. In einem Video gratulierte es allen Russen zum „Großen Sieg“ über Hitler-Deutschland. „Wir wünschen Ihnen geistige Frische, Frieden und alles Gute sowie den Militärdienstleistenden Erfolge bei ihrer höchst schwierigen und gefährlichen Kampfaufgabe zum Wohle Russlands“, hieß es etwas verklausuliert in der Botschaft.
Der deutsche ESA-Astronaut Matthias Maurer, der den Krieg aus der Internationalen Raumstation ISS beobachtet hat, teilte mit, die Besatzung sei gut über den russischen Überfall auf die Ukraine informiert gewesen. Doch was dort geschehen sei, „haben wir alle nicht erwartet“, fügte er auf seiner ersten Pressekonferenz in Köln nach seiner Rückkehr von der Halbjahres-Mission hinzu. Die russischen Kollegen hätten das angesprochen. Man sei „entsetzt und betroffen gewesen, wobei es keinen Unterschied unter uns“ gegeben habe. Maurer betonte, die internationale Besatzung sei wie eine „eingeschworene Familie“ gewesen. Er hoffe, dass damit eine Brücke gebaut worden sei, die die Menschen wieder „auf den normalen Weg“ zurückführen werde.
NASA verurteilt Missbrauch der ISS für politische Ziele
Die NASA hat die Flaggenaktion der Russen postwendend als Missbrauch der ISS für politische Ziele verurteilt. Administrator Bill Nelson sagte, damit werde der Krieg gegen die Ukraine unterstützt. Das sei im Grunde nicht mit der Hauptaufgabe der Station vereinbar, Wissenschaft und Technologie für friedliche Zwecke zu entwickeln. Rogosins Antwort folgte auf dem Fuße. Die USA hätten als erste gegen das Prinzip „Weltraum außerhalb der Politik“ verstoßen, indem sie Russland mit ihren Sanktionen des Zugangs zum internationalen Markt für Mikroelektronik und kommerzielle Aufträge beraubten, um „die Wiege der Welt-Raumfahrt zu ersticken“, sagte er. Russland werde in seinem Segment tun, was es für „notwendig und nützlich“ erachte und rufe zudem alle westlichen Partner auf, ihre „dummen Sanktionen“ aufzuheben. Roskosmos-Pressechef Dmitri Strugowez sekundierte seinem Boss mit der Feststellung, dass sich die Flaggenaktion nicht auf die Arbeitsbeziehungen mit den anderen Kollegen auswirken dürfe. Denn das Leben und die Sicherheit in der Station hingen entscheidend davon ab, wie die Kosmonauten mit den US-Astronauten zusammenwirken.
Natürlich habe auch ich genau beobachtet, ob oder wie sich die anderen russischen Kosmonauten zu dem Krieg äußern. Fündig geworden bin ich dabei nicht, habe allerdings aber auch aus Vorsichtsgründen keine Internet-Umfrage veranstaltet, denn bei ihnen handelt es sich ja um ausgesprochene Nomenklaturkader. Die Antwort auf das generelle Schweigen hat mir aber offenbar Gagarins Tochter Galina gegeben, mit der ich seit über 20 Jahren in vertrauensvollem Kontakt stehe. Auf meine Frage, was wohl ihr Vater zu dem Ukraine-Krieg gesagt hätte, schrieb sie mir im März: „Ich weiß nicht, was mein Papa über die Ukraine gedacht hat, darüber lohnt es nicht zu fantasieren. Aber er war ein Militär und würde nie sein Land verraten, dem er einen Eid geschworen hat. Er war ein Mensch der Ehre!“ Die allermeisten Kosmonauten waren stets hohe Offiziere oder gar Generäle, bis das Kosmonautenausbildungszentum (ZPK) Juri Gagarin im Sternenstädtchen bei Moskau in eine zivile Einrichtung umgewandelt wurde. Die Kosmonauten selbst wurden aus dem Militärdienst entlassen, erhielten aber die Erlaubnis, zu hohen Feiertagen Uniform zu tragen. Sie dürften deshalb ebenso wie Gagarin denken.
Natürlich habe ich mich auch gefragt, was wohl Sigmund Jähn zu dem Überfall auf die Ukraine sagen würde, wenn er noch lebte. Ich brauchte nicht lange nachzudenken, um mir sicher zu sein: So, wie ich ihn kenne und schätze, würde er den Krieg klar verurteilen.
Koroljows Enkel Andrej: Es gibt keine Entschuldigung für den Krieg
Der erste Deutsche im All wäre damit derselben Meinung wie Dr. Andrej Koroljow. Der Enkel des legendären Sergej Koroljow, der aus dem ukrainischen Shytomyr stammte, hat als bislang höchster Vertreter der russischen Raumfahrtbranche dezidiert gegen den Krieg Stellung bezogen. Er „gibt uns nicht das moralische Recht, in so einer schweren Zeit zu schweigen“, schreibt der Wissenschaftler namens der ganzen Koroljow-Familie in einem Offenen Brief. „Es kommen Menschen um, Millionen Menschen leiden, der Krieg verschont niemanden. Es gibt keine Rechtfertigung für den Krieg, wie immer man ihn nennt. Für den Überfall auf ein benachbartes Bruderland gibt es keinerlei Rechtfertigung.“ Dieser sinnlose Bruderkrieg müsse „unverzüglich beendet werden“. Ich hoffe nun inständig, dass Putin ihn dafür nicht vor Gericht zerrt, wie so viele andere Kriegsgegner. Möglicherweise schützen ihn aber der berühmte Name und die Furcht vor einem verheerenden internationalen Echo auf eine mögliche Bestrafung davor.
Objekt der Begierde: die ukrainische Raumfahrtbranche
Wie wir inzwischen wissen, hat es Russland bei seinem Angriffskrieg auch auf die Raumfahrtindustrie der Ukraine abgesehen. Die GK Roskosmos sei bereit, die Arbeit in den ukrainischen Raumfahrtunternehmen wieder in Gang zu setzen, die durch die Militäroperation „befreit“ worden seien, verkündete Rogosin in einem Interview des TV-Senders Rossija-24. Seine Behörde interessiere „vor allem das, was mit dem Weltraum verbunden ist, das, was immer ein untrennbarer Bestandteil der geeinten kosmischen Familie der großen Sowjetunion als kosmische Großmacht war“, fügte er hinzu. Das seien die Unternehmen, die sich in den Gebieten Charkiw, Kiew und Dnipropetrowsk befinden. In diesen Betrieben könne die GK Roskosmos voll das normale Leben wieder herstellen, die Produktion wieder aufnehmen und den Bürgern Arbeitsplätze anbieten.
Besonderes zynisch klingt in diesem Zusammenhang Rogosins Angebot, nach Beendigung des Krieges den Start des ukrainischen Satelliten Lybidj zu gewährleisten. Es sei nicht ausgeschlossen, ihn nach der „Spezialoperation“ ins All zu schießen, sagte er. Dazu sei aber ein „echter Hausherr“ erforderlich, auf den man warte, fügte er hinzu. Das seien womöglich die von der Kiewer Junta „befreiten Territorien der Ukraine“. Der Vertrag über den Satelliten war 2009 zwischen der ukrainischen Raumfahrtbehörde und der kanadischen Gesellschaft MacDonald, Dettwiller and Associates geschlossen worden. Der Start konnte aber nicht erfolgen, weil 2014 der ukrainische Hersteller der Zenit-Trägerraketen die Produktion einstellte. Heute befindet sich der Satellit einsatzbereit in Russland.
Wohl in Vorbereitung auf die geplante Annexion legte die ökonomische und wissenschaftlich-technische Leitorganisation Agat der GK Roskosmos am 20. Juli eine Einschätzung des Objektes der Begierde vor. Das Produktions- und Finanzpotenzial der Raketen- und Raumfahrtbranche der Ukraine sei „gegenwärtig äußerst niedrig“, lautete das Urteil.
Putin entlässt Rogosin und ernennt Juri Borissow zum Nachfolger
Kaum hatte sich Rogosin eifrig an die Umsetzung seiner Militarisierungspläne gemacht, die zur Zeit noch in der Aufnahme der Sarmat-Serienproduktion kulminieren, folgte Putins nächster Coup. Er löste ihn am 15. Juli ohne Angabe von Gründen ab und ersetzte ihn durch den bisherigen Vizepremier Juri Borissow. Auch hier wurde nicht gesagt, warum der Wechsel erfolgte oder was sich der Präsident davon verspricht. Auf die entsprechende Nachfrage eines Journalisten sagte Präsidentensprecher Dmitri Peskow nur, bei Rogosin habe das „nichts mit irgendwelchen Beanstandungen hinsichtlich seiner Arbeit zu tun“.
Die russische und auch die internationale Raumfahrt-Community durften also rätseln, was Sache ist. Eines war jedoch klar: mit dem Wechsel stand nunmehr ein ausgewiesener Rüstungsfachmann an der Spitze der Moskauer Raumfahrtbehörde, der sicher die Militarisierung der Branche weiter zielstrebig vorantreiben könnte. Denn Borissow war von 2012 bis 2018 als einer der Stellvertreter von Verteidigungsminister Sergej Schoigu für die Neuausrüstung der russischen Armee zuständig. Danach leitete er als Vizepremier den militärisch-industriellen Komplex.
Überraschungs-Coup von Borissow: Russland steigt bei der ISS aus
Nach der Ablösung von Rogosin war die Raumfahrtwelt natürlich gespannt, ob dessen Pläne fortgesetzt würden und mit welchem Programm nun sein Nachfolger Borissow antritt. Ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass das nur die Verschärfung des militärischen Kurses seines Vorgängers sein könnte. Denn weshalb sonst hatte Putin ihn sich für diesen Posten ausgesucht? Doch meine Befürchtungen sind vorerst nicht eingetreten. Als der Präsident Borissow am 26. Juli im Kreml empfing, um dessen Programm zu hören, gebärdete der sich aber im Gegensatz zu seinem Vorgänger als reiner Friedensengel. In seinem Vortrag fiel kein einziges Wort zur militärischen Raumfahrt. Dafür verkündete der neue Roskosmos-Chef als Überraschungs-Coup, dass Russland nach 2024 aus dem Projekt der Internationalen Raumstation ISS aussteigen werde. Bis dahin werde man aber natürlich alle Verpflichtungen gegenüber den anderen ISS-Partnern erfüllen. Eigentlich hätten die Russen mit der Verkündung dieser Entscheidung nach den ISS-Regeln noch bis Ende 2023 warten können. Doch das wollte man offenbar nicht. Sollte das etwa die spezielle Fortsetzung der Bestrafung der USA und ihrer Verbündeten für die Wirtschaftssanktionen sein, die Russland im Bereich der Hochtechnologien besonders schmerzhaft treffen?
Trotz der „nicht einfachen Situation“ der Branche, die es versäumt habe, sich rechtzeitig auf die industrielle Satellitenproduktion umzustellen, werde unter seiner Leitung die Hauptpriorität der GK Roskosmos auf die Versorgung der russischen Ökonomie mit den erforderlichen kosmischen Dienstleistungen ausgerichtet sein, versicherte dagegen Borissow, der jetzt auch Sondervertreter des Präsidenten für Fragen der internationalen Zusammenarbeit im Weltraum ist. Dabei gehe es unter anderem um die Navigation, die Telekommunikation, die Datenübertragung sowie um meteorologische und geophysikalische Informationen, ohne die man sich ein modernes Leben nicht vorstellen könne. Auch werde man die Weltraumwissenschaften nicht vergessen. Die wichtigste Priorität in der bemannten Raumfahrt gelte der Russischen Orbitalen Dienststation (ROSS), deren „Formierung“ 2024 beginne.
Zwischenzeitlich hatte das große Rätselraten darüber begonnen, wie die Formulierung nach 2024 zu deuten sei. Die US-Luft- und Raumfahrtbehörde NASA zeigte sich überrascht von der Entscheidung und beklagte, nicht vorab darüber informiert worden zu sein. NASA-Chef Bill Nelson rechnet aber weiter damit, dass die Russen ihre Entscheidung noch einmal überdenken, zumal gerade eine Übereinkunft über drei sogenannte Überkreuzflüge von Astronauten und Kosmonauten für die Jahre 2022 bis 2024 unterzeichnet worden ist. Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, sagte in einer ersten Reaktion, man prüfe derzeit Optionen, um mögliche Auswirkungen auf die ISS nach 2024 abzumildern. Dazu gehöre unter anderem der Ankauf von Booster-Missionen mit russischen Raumschiffen zur regelmäßigen Bahnanhebung der Station. Zuvor setzt man aber noch darauf, dass US-Raumschiffe notfalls für eine stabile Flugbahn der Station sorgen, was derzeit noch Aufgabe der Russen ist.
Auch Thomas Reiter, der als erster deutscher Astronaut in der ISS war, hofft, dass sich Russland „eines Besseren besinnt“. Aber auch ohne es gebe es Möglichkeiten, das westliche Segment, zu dem auch das europäische Columbus-Modul gehört, weiter zu betreiben und für die Forschung zu nutzen.
Unklarer Ausstiegszeitplan
Am 29. Juli präzisierte dann Borissow seine erste Ankündigung, ohne freilich endgültig für Klarheit zu sorgen. Der Ausstieg vollziehe sich nicht in wenigen Minuten, sondern könne nach Ansicht von Experten bis zu zwei Jahren dauern, sagte er dem Fernsehsender Rossija 24. Seine Erklärung sei nicht richtig verstanden worden, fügte er hinzu. Es gehe darum, dass der Ausstiegsprozess, der streng nach Russlands ISS-Verpflichtungen erfolge, „nach 2024 beginnt“. Ob das Mitte 2024 oder erst 2025 sei, hänge vom Zustand und der Arbeitsfähigkeit der Station selbst ab. Die Ressourcen der wichtigsten ISS-Module seien derzeit bereits „mehrfach ausgeschöpft“, begründete der Raumfahrtchef die Ausstiegsentscheidung. Auch die Garantiezeiten seien schon seit langem überschritten. Wegen der Alterung des Metalls der Station erhöhe sich die Intensität der Havarie-Situationen, die „lawinenartig“ anzuwachsen drohten. Das sei ein natürlicher Prozess am Ende des Lebenszyklusses eines jeden Erzeugnisses. Und das beschwöre eine reale Gefahr für die Besatzung nach 2024 herauf. Borissow erinnerte zudem daran, dass sein Land zu den ISS-Stammvätern gehöre und somit auch bis zum Ende Verantwortung für dieses „Kind“ trage. Zugleich arbeite man ja synchron an der ROSS, um das eigene bemannte Raumfahrtprogramm fortzusetzen.
Am 4. August machte auch Borissows Direktor für bemannte Programme, Sergej Krikaljow, den westlichen Partnern gewisse Hoffnungen auf einen noch langen Verbleib in der Station. Das Ausstiegsdatum könne „2024, 2025, 2028 oder 2030 sein“, sagte er bei einer Videoschalte nach Houston (Texas) in eine Pressekonferenz der Dragon Crew-5, die Ende September zur ISS fliegt und der auch die russische Kosmonautin Anna Kikina angehört.
Inzwischen sind auch vermehrt in Russland selbst Stimmen zu hören, die die Sinnhaftigkeit des Ausstiegs bereits 2024 bezweifeln. So sagte der Generalkonstrukteur der RKK Energija, Wladimir Solowjow, man müsse zumindestens so lange in der ISS bleiben, bis die ROSS substanziell Gestalt angenommen habe, was frühestens 2027/2028 der Fall sei. Denn wenn man die bemannten Flüge einige Jahre aussetze, werde es sehr schwer sein, das bis dato auf diesem Gebiet erreichte Niveau wieder herzustellen. Am 9. August meldete die NASA, dass der von ihr geplante Weiterbetrieb der ISS bis 2030 gesetzlich und finanziell abgesichert sei.
Erster Arbeitsbesuch Borissows in Baikonur und erste Anweisung zur Satellitenproduktion
Am 8. und 9. August hat Borissow dem Kosmodrom Baikonur, das Russland bis 2050 von Kasachstan gepachtet hat, einen ersten Arbeitsbesuch abgestattet. Bei einem Treffen mit dem kasachischen Minister für digitale Entwicklung, Innovationen und Luft- und Raumfahrtindustrie, Bagdat Mussin, über den Verlauf der Modernisierung des kasachischen Startkomplexes Baiterek, von dem einst die ukrainischen Zenit-M-Trägerraketen aufgestiegen sind und der jetzt für die neuen russischen Sojus-5-Träger umgebaut wird. Sie stellten fest, dass die Arbeiten an dem Komplex, der neue Perspektiven für die Raumfahrt eröffne, planmäßig verlaufen. Zwei Tage später ging Borissow an die Umsetzung seiner Raumfahrtstrategie zur Versorgung der russischen Ökonomie mit den erforderlichen kosmischen Dienstleistungen. Er wies die Aufnahme der Serienproduktion von Satelliten und anderer Weltraumtechnik an. Den Auftrag dazu erteilte er der Aktiengesellschaft WNIIEM (AO Wissenschaftliche Produktionskorporation “Kosmische Systeme für Monitoring sowie für Informations-, Steuerungs- und elektromechanische Komplexe”). Sie ist das Führungsunternehmen Russlands für den Bau von Erderkundungssatelliten sowie für Steuerungs- und Kontrollsysteme u. a. für Atomkraftwerke, die Erdölindustrie und den Schiffbau. Zu den Kunden gehören Unternehmen wie Rosatom und Gazprom, die Akademie der Wissenschaften (RAN), Ministerien und staatliche Einrichtungen sowie kommerzielle Auftraggeber.
Überraschender Salto rückwärts
Wer danach glaubte, der neue Raumfahrtchef setze sich damit endgültig von seinem Vorgänger Rogosin ab, sah sich aber schnell eines Besseren belehrt. Zur großen Überraschung der Fachwelt erklärte Borissow am 15. August auf dem Militärtechnischen Forum „Armija-2022“ in Kubinka vor den Toren Moskaus, die Erhöhung des Verteidigungspotenzials Russlands und die Stärkung seiner Sicherheit seien die Hauptrichtung seiner Raumfahrtbehörde. Ihre Unternehmen leisteten einen bedeutenden Beitrag zur Schaffung des Raketen- und Atomschirms der Russischen Föderation, der ein wichtiger Faktor bei der Gewährleistung der Sicherheit, der Unabhängigkeit und der nationalen Souveränität des russischen Staates sei. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die ballistischen Sinewa-Raketen, über die die Truppe bereits verfüge, und auf die Serienproduktion der Raketen des Typs Jars, Bulawa und Sarmat mit den unterschiedlichsten Sprengköpfen.
Erst als weitere wichtige Richtungen der Arbeit der GK Roskosmos nannte Borissow die Herstellung von hochtechnologischen Erzeugnissen für die zivile und duale Nutzung sowie die Projekte der internationalen Zusammenarbeit. Der jüngste Start eines iranischen Satelliten vom Kosmodrom Baikonur in Kasachstan eröffne die Möglichkeit des Ausbaus der Zusammenarbeit mit den Ländern des Nahen Ostens, Asiens und Lateinamerikas, die an einer Partnerschaft mit Russland interessiert seien.
Mit dem Salto rückwärts schwenkte Borissow voll auf den Kurs von Präsident Putin um. Der erklärte auf der Waffenschau, an der Militärdelegationen aus 72 Ländern teilnahmen, Russland werde gemeinsam mit seinen Verbündeten „die geltenden Mechanismen der internationalen Sicherheit vervollkommnen, neue schaffen und somit die nationalen Streitkräfte und anderen Sicherheitsstrukturen stärken, indem ihre Ausstattung mit moderner Bewaffnung und Militärtechnik erhöht wird“. Er warf zugleich dem Westen vor, das Volk der Ukraine als „Kanonenfutter“ zu benutzen, um seine Hegemonie in der Welt aufrecht zu erhalten.
Indes ist weiter offen, ob die Vorstellungen Borissows in eine neu formulierte Raumfahrtstrategie einmünden oder einfach in das noch bis 2025 gültige Föderale Weltraumprogramm FKP einfließen. Zudem ist die weitere Verwendung Rogosins noch nicht geklärt.
Gerhard Kowalski
Diskutieren Sie mit im Raumcon-Forum: