Das H.E.S.S.-Projekt

Wie Astronomen in der namibischen Savanne auf die Suche nach kosmischer Gammastrahlung gehen.

Ein Beitrag von Michael Stein.

Zwei der vier Tscherenkow-Teleskope während des Aufbaus.
(Foto: The H.E.S.S.-Project)
Zwei der vier Tscherenkow-Teleskope während des Aufbaus.
(Foto: The H.E.S.S.-Project)

Einleitung
Rund anderthalb Fahrtstunden von Windhoek, der Hauptstadt Namibias, entfernt können Afrika-Urlauber im rund 1.800 Meter hoch gelegenen Khomas-Hochland nahe dem Gamsberg seit Anfang 2002 ein futuristisches Ensemble von ungewöhnlich aussehenden Spiegelkonstruktionen entdecken. Die roten Stahlträger der vier je 60 Tonnen schweren Gebilde heben sich markant von dem Hintergrund der afrikanischen Savanne ab und lassen den Beobachter zunächst darüber im Unklaren, ob er in dieser kaum besiedelten Landschaft auf ein neuartiges Projekt zur alternativen Energiegewinnung oder eine astronomische Einrichtung gestoßen ist.

Tatsächlich handelt es sich bei diesen Stahlkonstruktionen, die jeweils einen aus über 380 einzelnen Segmenten gebildeten Spiegel von 13 Metern Durchmesser tragen, um so genannte Tscherenkow-Teleskope, die die erste Phase des H.E.S.S.-Projekts (= High Energy Stereoscopic System) bilden. Dieses internationale Projekt von wissenschaftlichen Instituten aus acht Ländern unter maßgeblicher deutscher Beteiligung nutzt die idealen klimatischen und optischen Bedingungen im namibischen Khomas-Hochland, um nach dem Auftreten des Tscherenkow-Lichts Ausschau zu halten: extrem kurze und lichtschwache bläuliche Blitze, die vom Eintreten hochenergetischer Gammastrahlung in die Erdatmosphäre künden.

Das Tscherenkow-Licht
Die wissenschaftliche Bedeutung des nach dem russischen Physikers P.A. Tscherenkow benannten optischen Phänomens liegt darin, dass es eine indirekte Beobachtung von hochenergetischer kosmischer Gammastrahlung auf der Erde möglich macht. Die 1912 von dem österreichischen Physiker und Nobelpreisträger Victor Hess entdeckte kosmische Strahlung kann auf der Erde nicht direkt gemessen werden, da sie von der Erdatmosphäre blockiert wird – eine enorme Hürde für die Erforschung dieser Strahlung, aber gleichzeitig ein Glück für das Leben auf unserem Planeten.

Grafische Darstellung eines durch hochenergetische kosmische Gammastrahlung ausgelösten Luftschauers
(Grafik: The H.E.S.S.-Project)
Grafische Darstellung eines durch hochenergetische kosmische Gammastrahlung ausgelösten Luftschauers
(Grafik: The H.E.S.S.-Project)

Treffen Photonen der hochenergetischen kosmischen Gammastrahlung auf Moleküle der Erdatmosphäre, wird dadurch ein kaskadenartiger Prozess ausgelöst: Zunächst entstehen aufgrund der enormen Energiemenge der Gammastrahlung (deren Photonen rund eine Milliarde mal mehr Energie als die Photonen des sichtbaren Lichts besitzen!) eine Vielzahl von Teilchen – überwiegend Elektronen und Positronen, ihre Antiteilchen. Diese Teilchen dringen in Form so genannter „Luftschauer“ sehr schnell in die unteren Atmosphärenschichten ein und erzeugen dabei das sichtbare Tscherenkow-Licht, ultrakurze bläuliche Lichtblitze mit einer Dauer von nur wenigen Milliardstel-Sekunden. Die Formulierung „sehr schnell“ ist übrigens schon beinahe britisches Understatement: Die Teilchen des „Luftschauers“ bewegen sich kurzfristig mit einer Geschwindigkeit, die die Lichtgeschwindigkeit in der Atmosphäre übersteigt!

Die aus den auch so genannten Sekundärteilchen bestehenden „Luftschauer“ erreichen in einer Höhe von etwa zehn Kilometern ihr Maximum und klingen in tieferen Atmosphärenschichten aus. Das von ihnen aufgrund der extrem schnellen Bewegung der Sekundärteilchen erzeugte Tscherenkow-Licht kann am Boden für einige Nanosekunden in einem kreisförmigen Gebiet von ungefähr 250 Metern Durchmesser registriert werden. Im Verhältnis zur Energie der kosmischen Gammastrahlung, die Verursacher des ganzen Phänomens ist, kann jedoch nur ein kleiner Bruchteil davon als sichtbares Licht wahrgenommen werden: Ein Photon der Gammastrahlung mit einer Energie von einer Billion Elektronenvolt erzeugt letzten Endes nur etwa 100 Photonen sichtbaren Lichts pro Quadratmeter Bodenfläche, und genau diese winzige Lichtmenge wollen die Wissenschaftler mit den zunächst vier Teleskopen messen.

Die Tscherenkow-Teleskope
Beim H.E.S.S.-Projekt handelt es sich um ein stereoskopisches Teleskopsystem, bei dem mehrere Teleskope denselben Luftschauer registrieren. Die zunächst vier Teleskope des Projekts sind in Form eines Quadrats mit 120 Metern Seitenlänge angeordnet, ein Kompromiss zwischen dem Wunsch nach großem Abstand zwischen den einzelnen Teleskopen zur möglichst genauen Ermittlung der Geometrie des Luftschauers (und damit der Herkunft der kosmischen Gammastrahlung) und der Notwendigkeit, alle Teleskope innerhalb der etwa 250 Meter durchmessenden Fläche anzuordnen, die von dem Tscherenkow-Licht eines Luftschauers maximal „ausgeleuchtet“ wird.

Die erste Aufnahme eines Luftschauers durch ein Tscherenkow-Teleskop des H.E.S.S.-Projekts im Juni 2002.
(Grafik: The H.E.S.S.-Project)
Die erste Aufnahme eines Luftschauers durch ein Tscherenkow-Teleskop des H.E.S.S.-Projekts im Juni 2002.
(Grafik: The H.E.S.S.-Project)

Die Teleskope sind drehbar und in der Vertikalen beweglich angeordnet, um jeden Punkt des Himmels anvisieren zu können. Die Konstruktion besteht aus einem Stahlrahmen und einem 108 Quadratmeter großen Spiegel mit 13 Metern Durchmesser, der sich aus 382 einzelnen, kreisrunden Segmenten mit 60 cm Durchmesser zusammensetzt. Durch diese Bauweise konnten die Kosten für die Spiegel reduziert werden, deren einzelne Spiegelsegmente übrigens aus mit Aluminium beschichtetem Glas bestehen. Jedes der 382 Segmente reflektiert mindestens 80 Prozent des einfallenden Lichts und ist mit Hilfe zweier ferngesteuerter Motoren individuell ausrichtbar. Die Spiegelkonstruktion ist entsprechend der typischen Distanz der Lichtschauer-Maxima so entworfen, dass sie Objekte in einer Entfernung von rund 10 Kilometern optimal fokussiert.

Bei Inbetriebnahme der Teleskope wird jedes Spiegelsegment einmal separat justiert. Dieser Vorgang geschieht durch das Anvisieren eines einzelnen Sterns, wobei die Lage des jeweiligen Spiegelsegments solange verändert wird, bis das von diesem Segment produzierte Spiegelbild des Sterns exakt auf einen definierten Punkt im CCD-Element der Teleskopkamera trifft. Der gesamte Justierungsvorgang geschieht vollautomatisch und benötigt einige Nächte pro Teleskop.

Im Fokus jedes Teleskopspiegels ist eine hochempfindliche elektronische Kamera montiert, deren Kern 960 lichtempfindliche Detektoren bilden. Jeder einzelne Detektor ist so empfindlich, dass schon das Auftreffen von nur fünf Photonen („Lichtteilchen“) ausreicht, um registriert zu werden. Um nicht durch Hintergrundlicht des nächtlichen Himmels gestört zu werden, melden die Detektoren nur dann Photonen weiter, wenn eine Mindestanzahl von Detektoren zeitgleich (und das bedeutet hier: innerhalb von nur 1,5 Milliardstel-Sekunden!) einen Lichteinfall registriert haben. Erst wenn mindestens zwei Teleskope zeitgleich einen Lichteinfall melden, werden die Daten zur späteren Auswertung aufgezeichnet.

Für den Betrieb der Teleskope kommen aufgrund der lichtempfindlichen Kameras nur mondlose Nächte in Frage. Das relativ hoch gelegene Gelände, die klare Luft und die Abwesenheit von Streulicht menschlicher Siedlungen sind sehr gute Bedingungen für die Jagd nach dem Tscherenkow-Licht.

Der Krabbennebel im Sternbild Stier ist ein pulsarer Nebel, in dessen Zentrum ein Pulsar rotiert - Relikt einer Supernova, die auf der Erde im Jahr 1054 n.Chr. wahrgenommen wurde. Solche kosmischen Objekte stellen aufgrund ihrer enormen elektrischen Felder gigantische Teilchenbeschleuniger und somit Quellen der Gammastrahlung dar, die mit Hilfe des H.E.S.S.-Projekts registriert werden sollen.
(Foto: FORS-Team, 8.2-Meter VLT/ESO)
Der Krabbennebel im Sternbild Stier ist ein pulsarer Nebel, in dessen Zentrum ein Pulsar rotiert – Relikt einer Supernova, die auf der Erde im Jahr 1054 n.Chr. wahrgenommen wurde. Solche kosmischen Objekte stellen aufgrund ihrer enormen elektrischen Felder gigantische Teilchenbeschleuniger und somit Quellen der Gammastrahlung dar, die mit Hilfe des H.E.S.S.-Projekts registriert werden sollen.
(Foto: FORS-Team, 8.2-Meter VLT/ESO)

Wissenschaftliche Ziele

Mit Hilfe der Tscherenkow-Teleskope soll die Herkunft und Intensität kosmischer Gammastrahlung ermittelt werden. Nur wenige Quellen kosmischer Gammastrahlung mit Energien im Tera-Elektronenvolt-Bereich konnten bisher identifiziert werden, meistens handelte es sich dabei um Galaxien mit hochaktiven Kernen, Supernova-Überreste und Pulsarnebel.

Das H.E.S.S.-Projekt soll mehr Licht in das Dunkel des so genannten Nicht-Thermalen Universums bringen. Unter diesen Begriff fallen alle Mechanismen der Erzeugung und Verteilung hochenergetischer Strahlungsarten, die nicht durch thermale Prozesse, wie beispielsweise die im Inneren von Sternen ablaufenden Kernfusionen, erklärt werden können. Die enormen Energien der von dem H.E.S.S.-Projekt indirekt registrierten kosmischen Gammastrahlung können nur durch Akkumulationsprozesse entstehen, bei denen große Energiemengen einer Quelle in relativ kleinen Partikelmengen konzentriert werden. Es gibt zwar wissenschaftliche Spekulationen und Theorien über hochenergetische Partikel, aber kaum experimentelle oder empirische Daten über Quellen und Beschleunigungsprozesse.

Die Tscherenkow-Teleskope sollen so auch bei der Identifizierung von kosmischen Superbeschleunigern helfen, in denen vorwiegend geladene Teilchen wie Elektronen und Ionen durch elektrische oder magnetische Felder beschleunigt werden. Dabei kann es sich entweder um eine kurzfristige, heftige Beschleunigung handeln, wie sie Elementarteilchen beispielsweise durch das gigantische elektrische Feld eines rotierenden Neutronensterns erfahren können, oder aber um schwächere, dafür aber lang anhaltende Prozesse der Energieakkumulation, wie sie Partikel durch jahrtausendlange Reisen in durch Supernova-Explosionen erzeugten magnetischen Feldern erfahren. Die hochenergetische Gammastrahlung ist dann meistens ein Sekundärprodukt des jeweiligen kosmischen Beschleunigers, die entsteht, wenn die beschleunigten Teilchen mit Umgebungsmaterie kollidieren.

Für die wissenschaftliche Forschung sind die auf diese Weise erzeugten Gammastrahlen von höherem Wert als die geladenen Partikel, die unmittelbar durch die beschriebenen Beschleunigungsprozesse entstehen. Gammastrahlen erfahren auf ihrem Weg zur Erde keine Ablenkung durch elektrische oder magnetische Felder und weisen somit direkt in Richtung ihrer Quelle. Die meisten Quellen für die Strahlung des Nicht-Thermalen Universums sind extreme kosmische Objekte wie Supernovae, Pulsare, kannibalistische Doppelsternsysteme, Schwarze Löcher oder Galaxienhaufen. Auch extrem exotische Objekte wie kosmische Strings als Relikte des Urknalls sind Quellen der Gammastrahlung, die die Wissenschaftler des H.E.S.S.-Projekts nachzuweisen hoffen.

Ausblick
Nachdem das erste der vier Teleskope im Juni 2002 mit den Messungen begonnen hat, werden im Laufe der nächsten 18 Monate nach und nach auch die anderen drei Tscherenkow-Teleskope in Betrieb gehen. Wenn die Pilot-Anlage die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen sollte, werden in den nächsten Jahren noch zwölf weitere baugleiche Teleskope im namibischen Khomas-Hochland gebaut werden. Angesichts der bisher wenigen Anlagen weltweit, die sich in vergleichbarer Weise mit der Messung und Auswertung der kosmischen Strahlung befassen, erwarten die am Projekt beteiligten Wissenschaftler durch die Anlage auf dem Gelände der Göllschau-Farm eine Vielzahl neuer und für zukünftige Forschungen wegweisender Erkenntnisse.

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