Zur Zeit findet in Amerika eine Grundsatzdiskussion zur Raumfahrtpolitik statt, wie sie noch vor einem Jahr fast undenkbar gewesen wäre. Den Sinn bemannter Raumflüge zieht kaum jemand ernsthaft in Zweifel, aber immer mehr Politiker drängen auf die Formulierung einer Langzeitstrategie für das US-Raumfahrtprogramm, fordern die Festlegung neuer Ziele für die NASA, die über die Fertigstellung der ISS hinausgehen.
Ein Beitrag von Gero Schmidt.
Zu lange wurde eine derartige Erneuerung vertagt, nun, sieben Monate nach der Columbia-katastrophe, und nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung des abschließenden Untersuchungsbericht des CAIB (Columbia Accident Investigation Board), lässt sie sich nicht mehr hinausschieben. Im Untersuchungsbericht wird nicht nur die Unglücksursache detailliert rekonstruiert, werden nicht nur Fehler des NASA-Managements offengelegt, sondern auch der Kongress und das Weiße Haus kritisiert. Letztere hätten es versäumt, der NASA ausreichende Geldmittel zur Verfügung zu stellen und eine überzeugende Gesamtstrategie zu formulieren. Eben das scheint man nun eilig nachholen zu wollen. Der Demokrat Nick Lampson hat erneut seinen Space Exploration Act eingebracht, den er bereits 2002 vorstellte und der über einen Zeitraum von 20 Jahren Missionen zu den Lagrange-Punkten, zum Mond, zum Mars und zu den Marsmonden vorsieht. Dabei wird allerdings nicht auf das „wie“ eingegangen und die eingeplanten Geldmittel sind, zumindest für die ersten zwei Jahre eher bescheiden ($50 bzw. 200 Millionen). Ob der Gesetzesvorschlag zudem realistische Chancen hat, angenommen zu werden, ist höchst zweifelhaft. Joe Barton, ein Republikaner, fordert derweil die Konvertierung der Shuttles in unbemannte Frachter und die beschleunigte Entwicklung des OSP (Orbital Spaceplane).
Dieses Vehikel war von der NASA schon Ende 2002, also noch vor der Columbia-Katastrophe, als Quasi-Nachfolger für den Shuttle angekündigt worden. Es ist ein kleines Raumfahrzeug, das als CRV (Crew Rescue Vehicle), also eine Art Rettungsboot, für die ISS fungieren soll, indem es dort ständig angedockt bleibt, und im Notfall die Besatzung zur Erde zurückbringt. Außerdem soll zwei Jahre nach Inbetriebnahme der CRV-Version das OSP auch als CTV (Crew Transfer Vehicle) eingesetzt werden. Dazu würde es an der Spitze einer der beiden neu entwickelten Trägerraketen (Delta IV, Atlas V) gestartet werden, um mindestens vier Personen und geringe Mengen Fracht zur Raumstation zu transportieren. Noch ist nicht endgültig entschieden – trotz des Namens – ob es eine Kapsel oder ein geflügeltes Minishuttle sein wird, das nächstes Jahr den Zuschlag bekommt. Die Befürworter und Gegner der jeweiligen Konzepte liefern sich deswegen hitzige Debatten. Vieles spricht für ein Kapseldesign (geringere Entwicklungskosten, einfachere Integration mit der Trägerrakete, geeignet auch für Missionen jenseits des Erdorbits), doch auch die Verfechter des Minishuttles haben ein paar Argumente auf ihrer Seite: So würde sich bei einer Evakuierung der Raumstation die geflügelte Variante besser für den Transport verletzter Crewmitglieder eignen, da hier beim Wiedereintritt in die Atmosphäre geringere g-Kräfte auftreten als mit einer Kapsel. Außerdem könnte ein Raumflugzeug auf einem Rollfeld landen und müsste nicht aus dem Ozean geborgen werden.
In jedem Fall, gleich, ob nun die Kapsel oder das Minishuttle das Rennen machen, ist das OSP ein großer Schritt in die richtige Richtung. Es wird viel sicherer sein als das Shuttle, da es an der Spitze der Rakete sitzt (und nicht wie das Shuttle auf einem riesigen Treibstofftank) und somit im Notfall augenblicklich abgesprengt werden könnte, zweitens weil keine Feststoffraketen wie beim Shuttle zum Einsatz kommen werden und drittens weil bei seiner Entwicklung die gesammelten Erfahrungen aus 20 Jahren Shuttlebetrieb einfließen werden; so wird man beispielsweise kaum noch einmal ein kachelbasiertes Hitzeschutzsystem verwenden. Neben der höheren Sicherheit hat das OSP auch den Vorteil, ein gutes Stück wirtschaftlicher zu sein als das Shuttle. Das wichtigste aber ist, dass es gute Chancen hat, tatsächlich gebaut und in Dienst gestellt zu werden. Seit nunmehr 20 Jahren bemüht sich die NASA erfolglos, einen Nachfolger für das Shuttle zu bauen: Shuttle II, X-30/NASP (National Aerospace Plane), X-33/Venturestar; keines dieser Milliardenprojekte hat auch nur zu einem flugfähigen Prototypen geführt. Ursache waren stets einer oder mehrere der folgenden Faktoren: Geldmangel, mangelnde politische Unterstützung aber auch Missmanagement innerhalb der NASA und überoptimistische Vorstellungen hinsichtlich der Realisierbarkeit neuer, noch unerprobter Technologien.
Beim OSP liegen die Dinge anders: Die NASA hat allem Anschein nach nicht vor, die Zahlen zu schönen, sprich wissentlich die Projektkosten zu niedrig anzusetzen, um gewissermaßen einen Fuß in die Tür zu bekommen und das Programm starten zu können, sondern erstellt Kostenschätzungen, die realistisch erscheinen. Von $9-12 Milliarden für das gesamte Projekt ist die Rede, die höchste derzeit in Umlauf befindliche Schätzung beläuft sich auf $17 Milliarden. Sicher ist das viel Geld, doch man sollte sich ins Gedächtnis rufen, dass das Original-Shuttle, inflationsbereinigt, $30 Milliarden in der Entwicklung verschlang. Technisch ist das OSP ungleich weniger ambitioniert als frühere Projekte, was die Chancen, den Zeitplan einzuhalten und das Budget nicht zu überschreiten, natürlich stark erhöht. Ursprünglich sah man eine Indienststellung der CRV-Variante für 2010 vor, das CTV sollte 2012 einsatzbereit sein. Das Space Shuttle sollte nach diesem Plan bis 2020 oder sogar noch länger fliegen, was nicht nur auf Grund seiner katastrophalen Fehlschlagrate problematisch geworden wäre: Der Parallelbetrieb von Shuttle und OSP hätte die Finanzen NASA ohne eine großzügige Budgeterhöhung überstrapaziert. Nun, nach der Columbia-Katastrophe, will man das OSP zwei Jahre früher, also bereits 2008, einsatzbereit haben und die Rufe nach einer baldigen Ausmusterung des Shuttle mehren sich. Im Weißen Haus denkt man inzwischen angeblich über 2012 als entsprechende Deadline nach.
Doch eine frühere Indienststellung des OSP und eine geänderte Einstellung gegenüber dem Shuttle (gerade viele Kongresspolitiker taten sich in der Vergangenheit schwer, die altgediente Raumfähre in den Ruhestand zu verabschieden) sind nicht die einzigen Folgen der Columbia-Tragödie. Wie eingangs bereits erwähnt, scheint nun auch die Notwendigkeit einer Grundsatzdebatte offensichtlich geworden zu sein. Die NASA steht nach mehreren Zeitungsberichte, unter anderem in der Washington Post, in Gesprächen mit der Bush-Regierung über die Formulierung eines neuen Plans für das Raumfahrtprogramm der USA über die nächsten 20 bis 30 Jahre. NASA-Chef O’Keefe gibt sich diesbezüglich sehr wortkarg, rückte aber auf Nachfragen von Kongressabgeordneten doch damit heraus, dass er mit Präsident Bush persönlich, mit Vizepräsident Cheney (der ein Freund O’Keefes ist) und anderen hochrangigen Regierungsvertretern darüber gesprochen habe, und sagte außerdem, dass konkrete Aussagen über den Inhalt des Plans erst gemacht würden, wenn Bush es für richtig halte. Gerüchteweise könnte das Anfang nächsten Jahres sein oder in der nächsten Rede zur Lage der Nation, also ebenfalls 2004.
Sowohl Demokraten als auch Republikaner kritisierten die bisherige Verschwiegenheit der Bush-Regierung und forderten ein klares Signal sowie ein Mitspracherecht bei der Formulierung des Plans. Bush täte wohl gut daran, den Kongress aktiv zu beteiligen, wenn er nicht wie sein Vater scheitern will: Dessen großangelegte Space Exploration Initiative, ebenfalls ein 30-Jahresplan, wurde seinerzeit binnen kürzester Zeit im Kongress eingestampft.
Die Bedingungen für eine Neuordnung des US-Raumfahrtprogramms waren schon lange nicht mehr so günstig, was die politische Stimmung angeht: Die Chinesen planen für Oktober diesen Jahres ihren ersten bemannten Raumflug, während die US-Shuttles am Boden bleiben müssen, und eine wahre Armada unbemannter Raumsonden wird sich Anfang 2004 dem Mars nähern und zumindest für kurze Zeit die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf den Roten Planeten lenken. Sollte das erklärte neue Ziel also der Mars sein, wäre hier ein günstiger Zeitpunkt, Unterstützung für dieses Vorhaben zu gewinnen.
Ein schwerwiegendes Problem, das alle hochfliegenden Visionen nur allzu schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen könnte, bleibt allerdings: Das derzeitige Rekorddefizit im Haushalt der USA, verursacht unter anderem durch die Steuersenkungen der Bush-Regierung, den Kampf gegen den Terrorismus und den Krieg und die Besatzung im Irak. Möglich, dass man sich dennoch zu der Einsicht durchringt, dass es auf die Mehrausgaben, die die Umsetzung eines ehrgeizigeren Raumfahrtprogramms verursachen würde, auch nicht mehr ankommt, möglich aber auch, dass man gerade in diesem Bereich den Rotstift ansetzen wird. Im letzteren Fall ist wohl nicht damit zu rechnen, dass O’Keefe es sich mit der Regierung verscherzen wird, indem er verbissen um mehr Geld für seine Behörde kämpft, sondern dass er versuchen wird, die NASA auch weiterhin mit unzureichenden Mitteln über Wasser zu halten.
Wie auch immer die derzeitige Debatte über die Zukunft des bemannten Raumfahrtprogramms ausgehen wird, eines ist klar: Die Entscheidungen der nächsten sechs bis zwölf Monate werden den Kurs für die nächsten zwei bis drei Jahrzehnte vorzeichnen.