Erdsystemmodelle sind die wichtigsten Werkzeuge, um den physikalischen Zustand der Erde quantitativ zu beschreiben und – beispielsweise im Rahmen von Klimamodellen – vorherzusagen, wie er sich in Zukunft unter dem Einfluss der menschlichen Aktivitäten verändern könnte. Eine Pressemitteilung des Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ.
Quelle: GFZ.
8. September 2021 – Wie die vermehrt eingesetzten Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) helfen können, Prognosen zu verbessern, und wo die Grenzen zweier Ansätze liegen, hat ein internationales Team um Christopher Irrgang vom Deutschen GeoForschungsZentrum Potsdam (GFZ) jetzt in einem Perspektiven-Artikel für das Journal Nature Machine Intelligence ausgeführt. Ein wesentlicher Vorschlag: beide Ansätze zu einer selbstlernenden „Neuronalen Erdsystemmodellierung“ zu verschmelzen.
Die Erde als System – eine Herausforderung
Die Entwicklung der Erde ist ein komplexes Zusammenspiel aus vielen Faktoren, darunter die Landoberfläche mit Flora und Fauna, die Ozeane mit ihrem Ökosystem, die Polargebiete, die Atmosphäre, der Kohlenstoffzyklus und andere biogeochemische Zyklen, sowie Strahlungsprozesse. Forschende sprechen deshalb auch vom System Erde.
Bei derartig vielen miteinander gekoppelten Einflusssphären und -faktoren ist es eine große Herausforderung, künftige Entwicklungen vorherzusagen, wie es etwa im Rahmen der Forschungen zum Klimawandel erforderlich ist. „Hier wurden in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt“, sagt Christopher Irrgang, Hauptautor der Studie und am GFZ Postdoktorand in der Sektion Erdsystemmodellierung. So fasst der kürzlich veröffentlichte sechste Sachstandsbericht des IPCC unser derzeitiges Wissen über die künftigen Auswirkungen verschiedener Szenarien für Treibhausgasemissionen so detailliert zusammen wie nie zuvor.
Der Bericht stützt sich einerseits auf immer umfangreichere und detailliertere Erkenntnisse aus Beobachtungen und Messungen des Erdsystems, um die vergangene Erwärmung und ihre Auswirkungen, etwa in Form von zunehmenden Extremereignissen, zu bewerten, und andererseits auf eine Vielzahl von Simulationen, die mit modernsten Erdsystemmodellen (ESMs) durchgeführt wurden.
Klassische Erdsystemmodellierung stark verbessert
Die klassischen Erdsystemmodelle basieren auf mehr oder weniger gut bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Mithilfe mathematischer und numerischer Methoden wird aus dem Zustand eines Systems zu einem gegenwärtigen oder vergangenen Zeitpunkt der Zustand des Systems zu einem zukünftigen Zeitpunkt berechnet.
Erdsystemmodelle haben sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verbessert: Es kann eine noch nie dagewesene Anzahl von Teilsystemen und Prozessen der Erde berücksichtigt werden, inklusive – in Ansätzen – so komplexer Schlüsselprozesse wie die Effekte von Wolken. Ihre Leistungsfähigkeit zeigt sich zum Beispiel darin, dass sie die Entwicklung der mittleren globalen Temperatur seit Beginn der Datennahme sehr gut nachzeichnen können. Und mittlerweile sind auch Aussagen über Auswirkungen des Klimawandels auf regionaler Ebene möglich.
Limitierungen
Der Preis ist allerdings, dass die immer komplexeren ESMs auch zunehmend größere Rechenkapazitäten benötigen. Trotz dieser Entwicklung sind auch die Vorhersagen der neuesten Modelle mit Unsicherheiten behaftet. So neigen sie beispielsweise dazu, die Stärke und Häufigkeit von Extremereignissen zu unterschätzen. Forschende befürchten, dass in bestimmten Teilsystemen der Erde abrupte Veränderungen auftreten könnten, sogenannte Kippelemente im Klimasystem, welche die klassischen Modellierungsansätze bisher nur schlecht vorhersagen. Und viele Schlüsselprozesse wie die Art der Landnutzung oder die Verfügbarkeit von Wasser und Nährstoffen können (noch) nicht gut in heutigen Modellen repräsentiert werden.
Ansätze des Maschinellen Lernens halten Einzug
Die Herausforderungen der klassischen ESM-Ansätze, aber auch die immer größeren verfügbaren Mengen gesammelter Erdbeobachtungen öffnen das Feld für den Einsatz Künstlicher Intelligenz. Dahinter verbergen sich zum Beispiel Methoden des Maschinellen Lernens (ML) wie Neuronale Netze, Zufallswälder oder Support-Vektor-Maschinen. Ihr Vorteil: Sie sind selbstlernende Systeme, die keine Kenntnis über die – womöglich sehr komplexen oder gar nicht vollständig bekannten – physikalischen Gesetze und Beziehungen benötigen. Stattdessen werden sie an großen Datensätzen für bestimmte Aufgaben trainiert und lernen die dahinter liegenden Systematiken selbst. Dieses flexible und leistungsfähige Konzept kann auf nahezu jede gewünschte Komplexität erweitert werden.
Ein neuronales Netz lässt sich beispielsweise darauf trainieren, Muster in Satellitenbildern zu erkennen und zu klassifizieren, wie Wolkenstrukturen, Ozeanwirbel oder die Qualität von Ernten. Oder es lernt, eine Wettervorhersage auf der Grundlage früherer Aufzeichnungen, Modelle und physikalischer Bilanzgleichungen zu erstellen.
„Obwohl erste Studien bereits in den 1990er Jahren gezeigt haben, dass Konzepte des Maschinellen Lernens besonders in der Bildanalyse gewinnbringend eingesetzt werden können, findet die ‚Kambrische Explosion‘ der KI in den Erd- und Klimawissenschaften erst seit etwa fünf Jahren statt“, stellt Irrgang fest. Nicht zuletzt, weil die Pools an Mess- und Modell-Daten täglich wachsen und mehr und mehr gebrauchsfertige ML-Bibliotheken zur Verfügung stehen.
Wie vertrauenswürdig sind die Ergebnisse der Künstlichen Intelligenz?
Inwieweit dieser selbstlernende Ansatz allerdings tatsächlich die klassischen Modellierungsansätze erweitern oder sogar ersetzen kann, bleibe abzuwarten. Denn auch das Maschinelle Lernen hat – noch – seine Tücken: „Viele der heutigen ML-Anwendungen für die Klimawissenschaften sind Proof-of-Concept-Studien, die in einer vereinfachten Umgebung funktionieren. Es wird sich erst zeigen, wie gut sich das für den operationellen und zuverlässigen Einsatz eignet“, resümiert Irrgang.
Ein weiterer entscheidender Aspekt: Wie bei einer Black Box sind zwar Input und Output bekannt, aber die dahinterstehenden Prozesse zur Erkenntnisgewinnung nicht. Das bereitet Probleme, die Ergebnisse auf physikalische Konsistenz zu prüfen, auch wenn sie plausibel erscheinen. „Interpretierbarkeit und Erklärbarkeit sind wichtige Themen im Zusammenhang mit maschinellem Lernen, die künftig verbessert werden müssen, um die Transparenz und das Vertrauen in die Methode zu stärken. Insbesondere wenn die Ergebnisse der Vorhersagen eine wichtige Grundlage für politische Entscheidungen bilden, wie das im Rahmen der Klimaforschung der Fall ist“, betonen die Autoren der Studie.
Ein dritter Weg: Hybride aus ESM und KI als neuer Forschungszweig
In der vorliegenden Veröffentlichung schlägt das Team um den studierten Mathematiker einen dritten Weg vor: die Vernetzung der beiden zuvor besprochenen Ansätze zu einer „Neuronalen Erdsystemmodellierung“. Auf diese Weise könnten die jeweiligen Stärken kombiniert und ihre Grenzen ausgedehnt werden. Erste vielversprechende Schritte auf diesem Weg gibt es bereits. So wird ML nicht mehr nur in der puren Datenanalyse eingesetzt, sondern auch, um in klassischen ESMs bestimmte Prozessschritte zu übernehmen oder zu beschleunigen. Dadurch würden dann wiederum Rechenkapazitäten frei, die in weitere Modellverfeinerungen fließen könnten.
In Zukunft können neue Schnittstellen für einen dynamischen Austausch an Informationen zwischen den beiden Ansätzen sorgen, sodass sie sich gegenseitig kontinuierlich verbessern. Diese tiefgreifende Erweiterung der klassischen Prozess-basierten Erd- und Klimaforschung hebt neuronale Erdsystemmodellierung zu einem eigenständigen und sich schnell entwickelnden Forschungszweig. Im Zentrum stehen dabei hybride Systeme, die selbst ihre physikalische Konsistenz überprüfen, korrigieren, und verbessern können und damit auch genauere Vorhersagen über geophysikalische und klimarelevante Prozesse liefern.
Aktuell, so resümieren die Forschenden um Irrgang, seien KI und der hybride Ansatz noch mit vielen Limitierungen und Fallstricken behaftet und es sei bei weitem nicht klar, dass der aktuelle Hype um den Einsatz der Künstlichen Intelligenz – zumindest allein – die offenen Probleme der Erd- und Klimaforschung lösen wird. In jedem Fall aber lohne es sich, diesen Weg zu beschreiten. Dafür müsse es allerdings eine enge Zusammenarbeit zwischen der Klima- und Geoforschung auf der einen und den Expert*innen der KI auf der anderen Seite geben.
Originalstudie: Christopher Irrgang, Niklas Boers, Maike Sonnewald, Elizabeth A. Barnes, Christopher Kadow, Joanna Staneva & Jan Saynisch-Wagner, Towards neural Earth system modelling by integrating artificial intelligence in Earth system science. Nat Mach Intell 3, 667–674 (2021). DOI: 10.1038/s42256-021-00374-3
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