Ungewöhnlicher Test an der dichten Venus-Gashülle für einige Experimente, die eigentlich für den atmosphärelosen Merkur ausgelegt sind. Eine Pressemitteilung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR).
Quelle: DLR.
Von der Tagseite kommend, an der Venus vorbei, mit der Schwerkraft des Planeten abbremsen und auf der Nachtseite weiter auf Kurs zum Ziel Merkur: Am Donnerstag, den 15. Oktober 2020, wird die ESA-Raumsonde BepiColombo um 5.58 Uhr MESZ in etwa 10.720 Kilometer Entfernung an der Venus vorbeifliegen und unserem Nachbarplaneten ein wenig ihrer Bewegungsenergie übertragen, um selbst an Geschwindigkeit zu verlieren. Zwei Jahre nach dem Start ist der Zweck des Manövers eine weitere Absenkung des sonnennächsten Punktes des Orbits von BepiColombo in Richtung der Umlaufbahn des Planeten Merkur. Den werden die beiden zu einem Gespann verbundenen Raumsonden der Europäischen Weltraumorganisation ESA und der japanischen Raumfahrtagentur JAXA nach einem weiteren Venusvorbeiflug im August 2021 erreichen und sechs Nahvorbeiflüge später schließlich Merkur Ende 2025 umkreisen. Für Planetenforscher und Ingenieure am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und dem Institut für Planetologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eine weitere Gelegenheit das Spektrometer MERTIS zu testen.
Blick in die Venus-Gashülle mit Infrarotsensoren
Als Raumflugmanöver werden die bahntechnisch notwendige Passage an der Venus wie auch schon der Erde-Mond-Vorbeiflug im Frühjahr dazu genutzt, die Funktionsfähigkeit einiger Experimente an Bord beider Orbiter zu testen und mit den dabei gewonnen Daten die Sensoren und Signalketten zu eichen. „Aber es werden während des An- und Abflugs und bei der höchsten Annäherung an die Venus auch wissenschaftliche Messungen durchgeführt“, freuen sich die zwei Hauptverantwortlichen des MERTIS Instruments, Dr. Jörn Helbert vom Institut für Planetenforschung in Berlin und Prof. Dr. Harald Hiesinger vom Institut für Planetologie in Münster. „Unser gemeinsam mit der Industrie und internationalen Partnern gebautes abbildendes Spektrometer MERTIS kommt dabei wieder zum Einsatz und wird neue Daten zur Zusammensetzung und Struktur der Venusatmosphäre liefern“, unterstreicht Helbert. In erster Linie wurde MERTIS entwickelt, um Spektren von gesteinsbildenden Mineralen auf der atmosphärenfreien Oberfläche des Merkur zu messen. Aber mit seinen Infrarotsensoren kann es auch bis zu einer gewissen Tiefe in die dichte Gashülle der Venus blicken. „Wir erwarten schon jetzt, noch viel mehr aber 2021, wenn wir der Venus viel näherkommen werden, ausgesprochen interessante Erkenntnisse“, ergänzt Hiesinger.
MERTIS (Mercury Radiometer and Thermal Infrared Spectrometer) ist ein bildgebendes Infrarot-Spektrometer und Radiometer mit zwei ungekühlten Strahlungssensoren, die für Wellenlängen zwischen 7 und 14 beziehungsweise 7 und 40 Mikrometern empfindlich sind. Während zweier Messzyklen, deren erster heute beginnt, werden fast 100.000 Einzelaufnahmen aufgezeichnet. Der erste Zyklus startet in einer Venusentfernung von etwa 1,4 Millionen Kilometer, dabei wird bis 23 Stunden vor dem Nahvorbeiflug und 670.000 Kilometer Entfernung gemessen. Nach einer Pause für die Überprüfung des Instruments beginnt 11 Stunden vor dem Venus-Vorbeiflug in 300.000 Kilometer Entfernung der zweite Zyklus, der bis fast 120.000 Kilometer Abstand zur Venus reicht, die vier Stunden vor dem Nahvorbeiflug passiert werden.
Die Venus im Blickpunkt der Planetenforschung
Die Venus ist fast so groß wie die Erde, hat sich aber ganz anders als diese entwickelt. Ihre Atmosphäre ist viel dichter, besteht fast ausschließlich aus Kohlendioxid und bewirkt dadurch einen sehr starken Treibhauseffekt, der zu einer dauerhaften Oberflächentemperatur von etwa 470 Grad Celsius führt. Die Existenz von Wasser und also auch Leben ist dort ausgeschlossen. Es ist gut möglich, dass es auf der Venus noch aktive Vulkane gibt. „Diese würden sich beispielsweise durch die von ihnen ausgestoßenen Schwefeldioxidgase verraten“, erklärt Helbert. „Wir haben nach den ersten Messungen in den 1960er- und 70er-Jahren vor etwa zehn Jahren mit der ESA-Sonde Venus Express eine massive Abnahme der SO2-Konzentration um mehr als die Hälfte registriert. Das ‚riecht‘ förmlich nach aktiven Vulkanen! MERTIS könnte uns jetzt neue Hinweise liefern.“ Ergänzt werden die Experimente durch zeitgleiche Beobachtungen des japanischen Venusorbiters Akatsuki und von einem Dutzend professionellen Teleskopen sowie von Amateurastronomen auf der Erde.
Erst vor kurzem stand die Venus im Blickpunkt von Wissenschaft und Medien, als eine Gruppe von Astronomen mit Teleskopen auf Hawaii und in Chile zweifelsfrei das Spurengas Phosphin (oder auch Monophosphan, chemische Formel PH3) nachweisen konnte. Phosphin wird auf der Erde durch industrielle Fertigung zur Schädlingsbekämpfung hergestellt, entsteht aber auch durch biologische Prozesse in Faulschlamm oder im Verdauungstrakt von Wirbeltieren. Phosphin ist ein sehr kurzlebiges Molekül, so dass es also dafür aktuell eine Quelle auf der Venus oder in ihrer Atmosphäre geben muss, die das Phosphin erzeugt.
Bisherige Modellierungen von natürlichen Phosphinquellen wie Vulkanismus, Meteoriteneinschläge oder chemische Reaktionen infolge von Blitzentladungen haben die gemessenen Konzentrationen nicht erklären können. Nicht zuletzt deshalb wurde eine immer wieder unter Planetenforschern diskutierte Möglichkeit ins Spiel gebracht, das Phosphin könnte von Mikroorganismen hoch in der Venusatmosphäre stammen. Das bedeutet nichts anderes, als dass dort in 40-60 Kilometer Höhe auf den ‚fliegenden Teppichen‘ der Schwefelsäurewolken bei moderaten Temperaturen Leben existieren könnte – was die Autoren der Studie allerdings selbst in Frage stellen und auf notwendige zukünftige Messungen verweisen. Bereits in den 2020er-Jahren wird die Venus wieder das Ziel von zwei Raumsonden der ESA und NASA sein. Die Chancen, bei den BepiColombo Vorbeiflügen Phosphin (PH3) mit MERTIS sehen zu können, halten beide Forscher aufgrund der großen Vorbeiflugentfernung und der geringen Konzentration für sehr unwahrscheinlich.
Die Venus, ein Exoplanet vor der Haustüre
Der Flyby ist auch aus anderer Perspektive wissenschaftlich interessant, denn mit der Raumsonde kann die Venus gewissermaßen wie ein ferner extrasolarer Planet, ein erdähnlicher Exoplanet mit fester Oberfläche und dichter Atmosphäre, untersucht werden. „Beim Erde-Vorbeiflug haben wir den Mond untersucht und dabei MERTIS das erste Mal im Flug unter realen Experimentbedingungen charakterisiert. Dabei haben wir gute Ergebnisse erzielt“, erläutert Gisbert Peter, MERTIS-Projektmanager vom DLR-Institut für Optische Sensorsysteme, das für die Konzeption und den Bau von MERTIS verantwortlich war. „Jetzt richten wir MERTIS zum ersten Mal auf einen Planeten. Daraus können wir Vergleiche mit Messungen vor dem Start von BepiColombo zur Optimierung des Betriebs und der Datenprozessierung machen und Erfahrungen für die Auslegung von zukünftigen Experimenten sammeln.“ Der Schwerpunkt aller Experimente liegt auf Messungen zur Zusammensetzung, Struktur und Dynamik der Venusatmosphäre, der Ionosphäre des Planeten und – mit den Instrumenten des japanischen MMO (Mercury Magnetospheric Orbiter) – der induzierten Magnetosphäre der Venus.
Treibstoff sparen mit Planetenvorbeiflügen
BepiColombo ist am 20. Oktober 2018 an Bord einer Ariane-5-Trägerrakete vom europäischen Weltraumbahnhof Kourou gestartet. Das nun stattfindende zweite sogenannte Flyby-Manöver von BepiColombo, dieses Mal an der Venus (das erste fand am Karfreitag an der Erde statt), dient dazu, das Sondengespann weiterhin ohne den Einsatz von Treibstoff ein wenig abzubremsen, um die Bahnellipse der Raumsonde in Richtung einer Kreisbahn zu „stauchen“, um am Ende vom Gravitationsfeld des Merkurs eingefangen zu werden und in den Merkurorbit einzuschwenken. Während die Sonde auf ihrer spiralförmigen Bahn durchs innere Sonnensystem mit einer Geschwindigkeit von 37 Kilometer pro Sekunde (133.500 km/h) in Richtung der Venus ‚fällt‘, verlässt BepiColombo den inneren Nachbarplaneten der Erde nach einem leichten Richtungswechsel mit einer Geschwindigkeit von nur noch etwa 3,25 Kilometer pro Sekunde (11.700 km/h). Der Vorbeiflug findet in einer Entfernung von 116 Millionen Kilometer statt: Die Venus läuft der Erde gegenwärtig voraus und ist vor Einsetzen der Dämmerung als ‚Morgenstern‘ im Osten sichtbar.
Wegen der starken Anziehungskraft der Sonne sind Planetenmissionen ins innere Sonnensystem nur mit sehr komplexen Flugbahnen zu meistern. Mit dem Manöver am Donnerstag wird die Relativgeschwindigkeit gegenüber Merkur auf 1,84 Kilometer pro Sekunde abgesenkt. Am Ende ihres Spiralflugs zwischen den Bahnen von Erde und Merkur wird BepiColombo mit fast derselben Geschwindigkeit wie der Merkur die Sonne umrunden und kann dann vom kleinsten Planeten des Sonnensystems am 5. Dezember 2025 leicht von dessen Schwerkraft eingefangen und mit etwas Düsenschub in eine polare Umlaufbahn einschwenken.
Zum ersten Mal wurden Flyby-Manöver entlang einer Planetenbahn bei der Mission Mariner 10 angewandt, um nach dem ersten Vorbeiflug am Planeten Merkur noch zwei weitere Nahvorbeiflüge zu ermöglichen. Die Berechnungen stellte der italienische Ingenieur und Mathematiker Giuseppe ‚Bepi‘ Colombo an. Colombo, Professor an der Universität seiner Heimatstadt Padua, war 1970 zu einer Konferenz zur Vorbereitung der Mariner-10-Mission an das Jet Propulsion Laboratory der NASA ins kalifornische Pasadena eingeladen. Dort sah er den ursprünglichen Missionsplan und erkannte, dass mit einem hoch präzise ausgeführten ersten Vorbeiflug zwei weitere Nahvorbeiflüge am Merkur möglich waren: Ihm zu Ehren wurde die nun fliegende große europäisch-japanische Merkur-Mission benannt.
Enge europäisch-japanische Zusammenarbeit
Die Gesamtleitung der Mission liegt bei der Europäischen Weltraumorganisation ESA, die auch für Entwicklung und Bau des Mercury Planetary Orbiter zuständig war. Der Mercury Magnetospheric Orbiter wurde von der japanischen Raumfahrtagentur JAXA beigesteuert. Koordiniert und überwiegend finanziert wird der deutsche Beitrag zu BepiColombo vom DLR-Raumfahrtmanagement mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi). Wesentlich finanziert wurden die beiden Instrumente BELA und MERTIS, die zu großen Anteilen an den DLR-Instituten für Planetenforschung und Optische Sensorsysteme in Berlin-Adlershof entwickelt wurden, aus Mitteln des DLR für Forschung und Technologie. Finanziell gefördert wird die Mission außerdem von der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster und der Technischen Universität Braunschweig und vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung (MPS) in Göttingen. Der industrielle Teil der Sonde wurde von einem europäischen Industrie-Konsortium unter der Federführung der Firma Airbus Defence and Space realisiert.
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