Die ESA-Mission ClearSpace-1 wird die erste Müllabfuhr im All sein. Die Vorbereitungen dafür sind in vollem Gang. Eine Information der Europäischen Raumfahrtagentur (European Space Agency, ESA).
Quelle: ESA.
Das bei einem internationalen Wettbewerb ausgewählte Konsortium unter Leitung des Schweizer Startups ClearSpace arbeitet derzeit an detaillierten Bauplänen für einen „Abschleppwagen“, der 2025 in den Orbit starten soll. Mit seinen Greifarmen soll der Jäger ClearSpace-1 defekte Satelliten und größere Trümmer einsammeln und aus der Erdumlaufbahn entfernen, um die Gefahr weiterer Kollisionen und das Risiko für aktive Satelliten zu verringern.
„Wir müssen aktiv werden, wenn die Umlaufbahnen der Erde nutzbar bleiben sollen“, sagt Holger Krag, Leiter des Programms Weltraumsicherheit der ESA. Die Zentrale des Space Safety Programme ist im Satellitenkontrollzentrum der ESA, dem ESOC in Darmstadt angesiedelt. Im Herbst 2019 musste Krags Crew ein Ausweichmanöver für den ESA-Forschungssatelliten Aeolus steuern. Einer der Starlink-Satelliten des privaten US-Unternehmens SpaceX war auf Kollisionskurs mit dem Erdbeobachtungs-Satelliten der Europäischen Weltraumagentur. Bei einem Zusammenprall wären weitere tausende Schrottteile entstanden, deren bereits hohe Zahl das sichere Navigieren und Operieren im Erdorbit immer schwieriger macht und die wichtige Infrastruktur im All und Forschungsmissionen der Weltraumagenturen gefährdet.
Schon jetzt, so Holger Krag, vagabundieren rund 30 000 Objekte größer als zehn Zentimeter in den Erdumlaufbahnen. Oberhalb einer Größe von einem Zentimeter Durchmesser sind es über 900 000 Bruchstücke und zählt man die kleinen Schrotteile oberhalb des Ein-Millimeter-Bereiches, kommen gar über 150 Millionen Fragmente zusammen. Allesamt Rückstände früherer Missionen, ausgediente Oberstufen und inaktive Satelliten, die bei Zusammenstößen in einem Kaskadeneffekt immer neuen Weltraummüll entstehen lassen. „Die Trümmermenge wächst jedes Jahr gewaltig“, sagt der ESA-Wissenschaftler. Und mit der steigenden Zahl an Raumfahrtmissionen meist von privaten Betreibern, die Konstellationen aus tausenden Minisatelliten im Low Earth Orbit platzieren, könnte die Gefahr von Kollisionen und weiterer Trümmerbildung nochmals rasant steigen. Zumal mangelt es bisher an einem Datenaustausch. Holger Krag mahnt ein „Management des Verkehrs im Orbit“ an. Er arbeitet daran, „dass wir bis zur internationalen Space Debris Konferenz 2021 in Darmstadt erste Ideen vorweisen können“.
Die Mission Clear-Space-1, Teil der Clean Space Initiative der ESA, soll dabei zur wegweisenden Lösung für das Müllproblem werden. Die Initialzündung „für eine nachhaltige Raumfahrt“, hofft der Leiter des ESA-Programms Space Safety. In Zusammenarbeit mit dem kommerziellen Konsortium unter der Leitung des Schweizer Startup ClearSpace will die ESA erstmals eine Technologie zur aktiven Müllentsorgung im All testen und finanziell tragbar machen für private und staatliche Nutzer. Die Missionen des Abschleppwagens für Weltraumschrott sollen bezahlbar sein. „Die Mission soll einem zukünftigen Markt den Weg ebnen“, betont Krag.
Ziel ist dabei nicht, alle Trümmer aus den Umlaufbahnen zu beseitigen, sondern vorerst vor allem die großen, kritischen Schrottteile, die bei einer Kollision weitere hunderttausend kleine verursachen würden. „Die Großen sind die Quelle für Kleine“, sagt Krag. Studien der ESA und der NASA belegen, dass dies, neben der Müllvermeidung, eine wichtige Maßnahme ist, um die Orbitalumgebung zu stabilisieren. Die ESA hat das Projekt ADRIOS (Active Debris Removal / In-Orbit Servicing) ins Leben gerufen. Das Team von ADRIOS steht mit technischer Expertise und Rat der Mission ClearSpace-1 und dem privaten Konsortium zur Seite, um den Erfolg der ersten Müllabfuhr-Technologie zu sichern.
Rund 120 Millionen Euro kostet die Mission. „Das ESA-Team“, so Krag, „stellt im Gleichklang mit dem Fortgang der Arbeiten das Geld dafür bereit“. Und auch das erste Objekt, dass der Mülljäger von ClearSpace einfangen und entsorgen soll, wird ein ausgedientes Raumfahrtobjekt der Europäischen Raumfahrtagentur sein: Der Vespa (Vega Secondary Payload Adapter) Adapter, der nach dem Flug mit der ESA-Trägerrakete Vega 2013 auf einer Umlaufbahn von rund 800 x 660 Kilometer Höhe verblieb. Mit 100 Kilogramm ein relativ kleines Objekt von schlichter Form und robuster Konstruktion. „Ein gutes Übungsobjekt für den Anfang“, sagt Krag.
Der von ClearSpace entwickelte Jäger soll sich dem Schrottteil nähern, es mit seinen Roboterarmen einfangen und in eine sehr niedrige Umlaufbahn bringen, von wo aus beide innerhalb kurzer Zeit in der Atmosphäre verglühen sollen. Das ist der Plan. Umsetzen will ihn das Schweizer Spin-Off-Unternehmen, das von einen erfahrenen Weltraummüll-Forscherteam der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) gegründet wurde. Luc Piguet ist einer der drei Gründer und CEO von ClearSpace.
Entstanden ist die Idee, sagt er, aus eigener Erfahrung heraus. 2009 startete ein Team der EPFL den Swiss Cube – einen Nanosatelliten – für Forschungszwecke in den Erdorbit in 700 Kilometer Höhe. „Genau in den kritischen Space-Debris-Bereich. Mehrfach gab es Kollisionswarnungen“, berichtet der Elektroingenieur, der auch am „Executive Program“ der Stanford University teilgenommen hat. 2012 entschied sich das Team, den Swiss Cube zurückzuholen, „aber niemand wollte dafür zahlen“, sagt Piguet. Und es gab kein Müllabfuhrunternehmen im All, das diese Aufgabe übernehmen konnte. Noch nicht. Warum also nicht selbst etwas entwickeln? Im Orbit aufzuräumen, „dafür sahen wir einen großen Bedarf“, sagt der 48-Jährige. 2017 gründete er daher mit der Raumfahrtingenieurin Muriel Richard und der Industriedesignerin Catherin Johnson ClearSpace. „Das Service Offer Request (SOR) für In-Orbit Servicing/Debris Removal der ESA kam für uns zum richtigen Zeitpunkt“, so Piguet. Bei dem Wettbewerb überzeugten die Schweizer.
ClearSpace ist mittlerweile auf 12 Mitarbeiter und Externe sowie ein siebenköpfiges Team an der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne und an anderen Universitäten in der Schweiz angewachsen. Hinzu kommt ein Konsortium aus erfahrenen internationalen Unternehmen aus den acht an der ESA Mission beteiligten europäischen Staaten.
Eine der großen Herausforderungen der Mission ist die Technik, sagt Luc Piguet. Der ClearSpace-Jäger muss das Objekt mit Hilfe von Sensoren orten, präzise ansteuern und sich soweit nähern, dass die vier Greifarme das Trümmerteil oder den ausgedienten Satelliten einfangen können ohne jedoch mit ihm zu kollidieren. Schwierig wird es bei Objekten, die unkontrolliert rotieren. „Wir müssen zugreifen, bevor wir direkten Kontakt haben und erst dann ziehen wir den Weltraumschrott an unsere Basiseinheit heran und fixieren ihn dort“, erklärt er. Die Greiftechnik ist neu, ausprobieren lässt sie sich erst beim ersten Probelauf und Rendez-Vous mit Vespa im All. „Wir tragen eine große Verantwortung, dass dieses Verfahren funktioniert“, weiß Piguet. Zudem muss die Technologie möglichst wenig kosten, damit sich genügend Nachahmer finden. Für das Aufräumen im All sieht er einen großen Markt. „Es gibt heute schon 2000 ausgediente Satelliten, die entsorgt werden sollten.“
Künftige Missionen müssen so geplant werden, dass kein Weltraummüll mehr entsteht, betont Holger Krag. Zwar ist jedes Land für seine Gesetzgebung verantwortlich, doch er geht davon aus, dass sich etwas ändern muss und wird. „Wer seine Missionen nicht nachhaltig plant, muss künftig für das Aufräumen zahlen. Die ESA will die Technologie dafür liefern und zeigen, dass es geht. Wir wollen den Stein ins Rollen bringen“, sagt Krag.
Film zum Thema Space Debris: