Aerobraking: Der Tritt auf die Luftbremse

In diesem Artikel – der Übersetzung eines Features auf den Internetseiten des Mars-Forschungsprogramms der NASA – berichten zwei leitende Mitarbeiter über das Aerobraking von 2001 Mars Odyssey und den Umgang mit den damit verbundenen Risiken.

Ein Beitrag von Michael Stein.

Die Marsatmosphäre (Aufnahme des Viking 1-Orbiters). (Foto: NASA)

Das Abbremsen eines Raumfahrzeugs mit Hilfe des Luftwiderstands hoher Atmosphärenschichten ist bisher zwei Mal durchgeführt worden: Als Experiment bei der Venus 1994, nachdem die eigentliche Mission der Raumsonde Magellan abgeschlossen war, und bei der Mars Global Surveyor-Sonde, als sie 1997 beim Mars eintraf. Diese Technik nutzt die Solarpaneele eines Raumfahrzeugs wie Flügel oder einen Fallschirm, um es abzubremsen und die Umlaufbahn zu verkleinern, wodurch sich der Treibstoffbedarf deutlich reduziert, der zum Erreichen des gewünschten Orbits ansonsten erforderlich wäre. Bei Mars Global Surveyor erschwerte ein defektes Gelenk an einem der Solarflügel das „Aerobraking“. Besondere Sorgfalt war notwendig, um das Abreißen zu verhindern, wodurch sich die Aerobraking-Phase dieser sehr erfolgreichen Mission um 18 Monate verlängerte.

Marsforscher haben sich für ihre Instrumente schon lange eine niedrige, kreisförmige Umlaufbahn gewünscht, die günstige Lichtverhältnisse und eine gleichmäßige Höhe für Bildaufnahmen und andere Datenerhebungen bietet, und die Aerobraking-Phase von Mars Odyssey soll genau dies liefern. „Aber besonders beim Mars ist das Aerobraking mit eigenen Risiken verbunden“, sagt Charles Whetsel, Chefingenieur des Mars-Programms, der mit seiner bei Mars Global Surveyor gewonnenen Erfahrung vielleicht der routinierteste Aerobraking-Spezialist im Sonnensystem ist.

„Aerobraking basiert auf einem einfachen Prinzip“, sagt Whetsel: „Nicht zu viel, nicht zu wenig, nicht zu tief, nicht zu flach; denn wenn es zu tief geht werden Sie die Raumsonde beschädigen, und wenn [die Flugbahn] zu flach ist werden Sie nicht in der vorgegebenen Zeit den gewünschten Orbit erreichen.“

„Wenn das Aerobraking begonnen hat, fliegen Sie das Raumfahrzeug mehrere hundert Mal durch die Atmosphäre. Der Trick ist, dies tief genug zu machen, damit die Umlaufbahn reduziert wird und man in einen günstigen Orbit gelangt, aber nicht so schnell vorzugehen, dass die Solarzellen zu heiß werden,“ so Whetsel.

Das wäre einfach, sagt Whetsel, wenn die Marsatmosphäre einer gleichförmigen Kugel ähneln würde, „aber es gibt dort Ereignisse wie Wetter und Staubstürme, die eine Auf- und Abwärtsbewegung der Atmosphäre verursachen.“

Tatsächlich tobt schon seit Wochen ein gigantischer globaler Staubsturm auf dem Mars. Wissenschaftler des Mars Global Surveyor-Teams benutzen die Instrumente der Sonde, um ihn ständig zu überwachen. Ein sorgfältig geplanter Flug durch die Atmosphäre könnte die Mission zum Scheitern bringen, wenn ein den Planern vorher nicht bekannter Staubsturm die Atmosphäre anschwellen lässt und Mars Odyssey vom Himmel fängt. Deswegen werden die Daten vom Mars Global Surveyor so wichtig sein, um Mars Odyssey durch die Aerobraking-Phase zu führen.

Charles Whetsel ist der Chefingenieur des Mars-Programms der NASA. (Foto: NASA)

„Das Team muss diesen Prozess täglich verfolgen um zu sehen, ob die Atmosphäre sich ausdehnt, wie die Raumsonde reagiert, ob die Temperaturen [an Bord] in Ordnung sind, ob wir schnell genug vorankommen, und ob das Raumfahrzeug in einem guten Zustand ist“, sagt Whetsel.

Odysseys Aerobraking wird schnell voranschreiten. Schließlich wird die Bodenkontrolle täglich bis zu zwölf Bremszyklen durch die Atmosphäre ausführen. „Aerobraking ist eine sehr entscheidungsintensive Angelegenheit“, so Whetsel. „Es gibt viele Daten, über die Entscheidungen getroffen werden müssen. Und es ist ein Prozess, den man zu Ende führen muss, wenn man ihn einmal begonnen hat.“

Whetsel vergleicht das Aerobraking mit dem Anhören von „Bolero“: „Es beginnt mit großen Umlaufbahnen, und es gibt einen Rhythmus, wann man die Atmosphäre das nächste Mal treffen muss.“ Er trommelt auf den Schreibtisch, um den Takt zu verdeutlichen. „Es gibt einen Rhythmus für alles, was bis zum nächsten Orbit abgeschlossen sein muss. Wenn die Umlaufbahn kleiner wird, beschleunigt sich alles und die Dinge passieren schneller, und entweder man bleibt im Takt oder man schafft es nicht.“

Bleib Deinen Prinzipien treu
Während der Countdown für Odysseys Ankunft beim Mars voranschreitet und neue Mars-Missionen für 2003, 2005, 2007 und darüber hinaus Gestalt annehmen, sind die Probleme der letzten Jahre den Design-, Montage-, Test- und Flugkontrollteams noch sehr gut im Gedächtnis. Die Leitung des Jet Propulsion Laboratoy (JPL) hat neue Mechanismen eingeführt, um die bei diesen bitteren Lektionen [der fehlgeschlagenen Missionen] gewonnenen Erfahrungen zu bewahren und zu institutionalisieren.

Matt Landano, leitender Projektmanager für 2001 Mars Odyssey, sagt dazu: „Üblicherweise lernt man sehr viel mehr von Fehlschlägen als von Erfolgen, hauptsächlich, weil man nach einem Fehlschlag intensiv und tiefgehend ermittelt, um die Ursache des Misserfolgs herauszufinden.“

Im Jahr 2000, nach dem Verlust von zwei Mars Surveyor-Missionen, wurde Landano gebeten, die Entwicklungsprinzipien formal niederzulegen, die frühere JPL-Erfolge charakterisierten. Weiterhin identifizierte er das Ausmaß vertretbarer Kompromisse und die Auswirkungen, wenn Entwicklungsprinzipien umgangen wurden. In diesem Prozess, sagt er, „schaute ich mir die Ursachen für unsere vergangenen Misserfolge an, und dabei handelte es sich nicht um High-Tech-Probleme.“

„In einem komplexen System wie einem Raumfahrzeug müssen ungefähr eine Million Kleinigkeiten richtig funktionieren. Das sind die richtig komplexen Angelegenheiten, auf die jeder achtet. Teile, die eine neue Technologie darstellen, werden üblicherweise von hundert Augen überwacht.“ Aber er weist auf nicht beachtete Grundsätze hin, wie eine gute Kommunikation zwischen den Mitgliedern der Teams oder einem verborgenen Fehler an einem scheinbar weniger wichtigen Teil, als Beispiel für gefährliche Fehlerquellen. „Es sind die Sachen, die man schon oft gemacht hat, von denen man denkt man weiß, wie sie gehen“, sagt Landano. „Irgendwie sind das die Sachen, an denen man scheitert.“

„Es ist ein riskantes Geschäft. Und wenn man seine Wachsamkeit sinken lässt, wenn man sagt ‚Wir wissen, wie man das macht‘, wird man nachlässig im Kopf oder in der Ausführung. Aber wenn man scheitert zwingt es einen, erneut alles durchzugehen und man sagt: ‚Wow, schau wie knapp das war, obwohl ich hier erfolgreich war. Hier bin ich gescheitert, und dort hätte es mir auch passieren können.‘ So etwas bringt einem eine erhöhte Aufmerksamkeit für Prozesse, Vollständigkeit, Durchdachtheit und die Umsetzung bei allem, was man tut.“

Obwohl noch nicht endgültig fertig, sind die „Design-, Prüfungs-, Test- und Operationsprinzipien“ – in der Space-Community besser als „Die Landano-Prinzipien“ bekannt – mittlerweile die Entwicklungs- und Managementrichtlinien, nach denen sich das JPL und seine Auftragnehmer richten, um Risiken zu minimieren und die Zuverlässigkeit von Missionen zu erhöhen.

Den Kern der Anstrengungen beim JPL zur Risikoverminderung, sagt Landano, ist eine erneuerte Aufmerksamkeit für Toleranzen bzw. Sicherheitsmargen, die in alle Elemente eines Projekts eingebaut werden müssen. „Beispielsweise bietet in einem Zeitplan vorgesehene Pufferzeit die Möglichkeit, Probleme zu lösen, ohne wegen eines nicht mehr einzuhaltenden Termins in Panik zu geraten. Eine von Beginn an vorgesehene Marge für die Gesamtmasse einer Raumsonde kann nützlich sein, wenn während des Entwicklungs- oder Montageprozesses eine zusätzliche Komponente hinzugefügt werden muss. Finanzielle Mittel als Reserve für zusätzliches qualifiziertes Personal, falls erforderlich, kann einem Projekt unter Umständen schneller über eine möglicherweise auftretende schwierige Phase hinweghelfen.“

„Es geht immer um Margen“, sagt er, „besonders wenn man versucht, in einem engen Zeitrahmen zu arbeiten, wenn wir versuchen, ein Projekt in zwölf oder achtzehn Monaten weniger als früher durchzuführen.“

Matt Landano, Projektmanager der Mission 2001 Mars Odyssey. (Foto: NASA)

Man weiß nicht, was man nicht weiß
„Landanos Prinzipien“ werden als ein Versuch angesehen, die Erkenntnisse aus Erfahrung, Erfolg und Misserfolg an jüngere Entwickler weiterzugeben, die an neuen Missionen zum Mars und anderen Zielen beteiligt sind. Der Schlüssel für richtige Entscheidungen bei der Raumfahrtentwicklung, sagt Landano, sind nicht nur die auf der Universität gewonnenen Kenntnisse, sondern auch das aus der Erfahrung täglicher Arbeit bei einer Raumfahrtmission gewonnene Verständnis.
 
Wie Whetsel sagt: „Es ist wichtig, sich ein gesundes Maß an Paranoia zu bewahren. Die Leute, die man wirklich in seinem Team haben möchte, sind diejenigen die sich Gedanken machen um Sachen wie: ‚Wieso liefert ein Sensor ständig etwas verschiedene Werte als der andere? Bedeutet das etwas?‘ oder: ‚Was habe ich nicht getestet? Welche Folgen hat es, wenn dieses und jenes passiert?‘. Das ist die Sorte von Fragen, die man gestellt haben möchte. Aber man muss eine Balance halten zwischen den Dingen, die man weiter hinterfragt, und jenen, die man akzeptiert“, sagt Whetsel.
 
„Dann“, sagt Landano, „wenn man wie ich und andere hier älter wird und zwei, drei oder sogar vier und fünf Mal das Ganze durchlaufen hat, denken wir, dass wir es verstehen. Und dann entdecken wir, dass trotz all‘ dessen, was wir zu wissen glauben, ein ganzes Bündel von Dingen da ist, von denen man nicht weiß, dass man sie nicht weiß. Das sind die Sachen die einen fertig machen können. Nun beginnt man das zu erlangen, was man Weisheit nennt. Man hat es oft genug durchlaufen um zu sagen: ‚Weißt Du, ich bin nicht so clever wie ich denke. Ich sollte besser eine Methode finden um mit den Dingen umgehen zu können, von denen ich nicht weiß, dass ich sie nicht kenne.'“
 
Aber wie soll man Umstände, von denen man nicht weiß, dass man sie nicht kennt, berücksichtigen? Landanos Antwort: „Margen, Margen, Margen.“

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